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Dance of Shadows

Dance of Shadows

Titel: Dance of Shadows
Autoren: Yelena Black
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würden, ganz gleich, was geschah.
    Am späten Abend klingelte ihr Handy. Sie packte ihre letzten Bücher in ihren Koffer und ging dran.
    »Vanessa«, sagte ihre Mutter seufzend. »Wir haben deine Nachricht bekommen, dass die Aufführung des
Feuervogels
abgesagt wurde. Ich
wusste
doch
,
dass auf Josef kein Verlass ist! Ich kann es kaum glauben, dass er sich mit seiner Assistentin aus dem Staub gemacht hat. Hätte er nicht wenigstens bis zum Semesterende warten können? Warum diese Eile?«
    »Ja, das hat uns alle ganz schön durcheinandergebracht«, sagte Vanessa und tauschte mit Steffie einen vielsagenden Blick aus. »Wir sind alle enttäuscht.«
    TJ war hinausgegangen, um sich bettfertig zu machen, und Vanessa stand im Zimmer und starrte auf die leere Wand. Sie hatte alle Poster abgenommen und eingepackt, da sie nicht wusste, ob sie überhaupt je hierher zurückkehren würde.
    Und dann sah sie Margarets alte Spitzenschuhe unter ihrem Bett.
    Vanessa zog die Schuhe hervor und wischte den Staub vom verblichenen Satin. Die Initialen ihrer Schwester waren in derselben krakeligen Schrift in die Sohlen eingeritzt, in der auch ihr Tagebuch geschrieben war. Vanessa drehte die Schuhe um und sah, dass sich darin noch immer zwei glatte, dunkle Fußabdrücke abzeichneten, als hätten die Füße ihrer Schwester Schatten hinterlassen.
    »Ein Schatten«, sagte Vanessa. Sie zog ihre Schuhe aus. Die Zehen waren gerötet und mit Bandagen umwickelt. Sie legte ihre Füße auf die Schuhe ihrer Schwester und fragte sich, ob sie ihr passen würden. Und zum ersten Mal seit Margarets Verschwinden zog sie deren Spitzenschuhe an.
    Die Lammwolle, die in dem Zehenteil steckte, fühlte sich weich an. Sie fuhr mit dem Finger die Naht entlang, mit der ihre Schwester die Bänder an den Schuh genäht hatte, und wickelte sie sich um die Knöchel, bis sie stramm saßen. Als sie fertig war, stand sie auf und streckte die Füße. Zu Vanessas Überraschung passten ihr die Schuhe fast wie angegossen.
    Vorsichtig hielt sie sich am Schreibtisch fest und drückte sich über die halbe Spitze immer weiter hoch, bis sie
en pointe
stand. Sie ließ den Schreibtisch los und hob die Arme über den Kopf. Dann reckte sie das Kinn zum Licht, und vor ihrem inneren Auge tauchten farbige Bilder auf. Schmale rote Lippen, die bebten. Ein Trikot, das sich über dem Brustkorb eines Mädchens spannte. Er hob und senkte sich heftig, als würde sie weinen. Und ein schlanker Fuß, ohne Schuhe, zierlich und nach vorn gestreckt, bereit zum Tanzen.
    Vanessa machte einen Satz zurück und starrte bestürzt auf die Schuhe. Sobald ihre Füße wieder flach auf dem Boden standen, verschwand das Bild, aber sie wusste sofort, wessen Fuß sie gerade gesehen hatte. Die Form der Lippen dieses Mädchens, ihr Spann, die Körperhaltung – für Vanessa waren sie unverkennbar, denn sie hatte ihrer Schwester ihre gesamte Kindheit hindurch beim Tanzen zugesehen.
    »Margaret«, flüsterte Vanessa. Bedeutete das, dass sie tot war? Vorsichtig erhob sie sich mit einem Fuß wieder auf Spitze, dann mit beiden.
    Das Bild durchzuckte sie erneut. Die roten Lippen, das Trikot, die zierlichen nackten Füße.
    Vanessa schloss die Augen und versenkte sich hinein.
    Ihre Schwester streckte das Bein aus und hob sich ins
relevé
, als nähme sie die Anfangsposition eines Stücks ein. Aber es war gar kein Stück. Mit großer Mühe führte sie ihren Zeh über den Boden. Sie schrieb in krakeliger Schrift einen Buchstaben.
Bin.
Sie bewegte denFuß vorsichtig und schrieb weitere Buchstaben auf den Boden, bis sie vier Wörter ergaben:
    Ich bin noch da.
    Vanessa konnte ihre Schwester beinahe fühlen – ihren Schweiß, ihre Tränen, ihren Atem. Sie schaffte es nicht mehr, sich auf Spitze zu halten und sank zusammen. Als ihre Füße wieder flach auf dem Teppich standen, verblasste das Bild, aber nicht ganz.
    Margaret war nicht tot. Sie war irgendwo dort draußen in der Welt. Und Vanessa wusste, was sie zu tun hatte.
    Sie hob die Schuhe hoch und wickelte sie in Papier ein. Dann verschnürte sie das Päckchen fest mit Klebeband. Sie steckte es in ihren Koffer und gelobte sich selbst etwas. Ja, sie würde Justin helfen, den Dämon aufzuspüren. Aber sie würde auch ihre Schwester suchen. Und wenn sie Margaret gefunden hätte, würde sie all diejenigen, die für ihr Verschwinden verantwortlich waren, zur Rechenschaft ziehen. Oder sie würde bei dem Versuch, das zu tun, sterben.

ISBN 978-3-7607-9840-0
    Jeane Smith und Michael
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