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Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Lilly Lindner
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nicht so ein würdeloser Prominentenhinterherrenner wie ich. So! Genug von der Arbeit! Also: Ich gucke jetzt noch schnell die Nachrichten, dann gucke ich noch kurz meine Frau an. Und dann gehe ich schlafen.«
    Das sind so Sätze, die Jasons Vater manchmal nach der Arbeit sagt, und weil Jason ein kleiner Junge mit einem großen Bedarf an Plastikrittern ist, kann er beim besten Willen nicht verstehen, warum sein Vater jeden Tag, abgesehen vom Sonntag, in sein Büro hetzt, als ginge es darum, die Welt vor einer Katastrophe zu retten. Jason kann nicht begreifen, warum sein Vater immer mindestens ein Handy dabeihaben muss und ein Aufladegerät und einen dicken Terminplaner und das iPad und seinen Aktenkoffer. Denn es ist doch offensichtlich, dass sein Vater seinen Job eigentlich gar nicht so richtig mag. Er würde ganz bestimmt viel lieber mehr Zeit haben, um Jasons Mama anzugucken, die wirklich eine sehr hübsche Frau ist, mit langen Haaren und langen Beinen und langen Nervensträngen, die ihre grenzenlose Geduld ganz fest umschlungen halten.
    Jason hat seinen Vater schon einige Male gefragt, warum er sich nicht einfach einen weniger doofen Job aussuchen kann, zum Beispiel Feuerwehrmann oder Bauarbeiter oder Zahnersatzteilhersteller, so wie die Väter von seinen Freunden aus dem Kindergarten. Aber Jasons Vater hat daraufhin immer nur seufzend geantwortet: »Das erkläre ich dir, wenn du etwas älter bist. Das verstehst du jetzt noch nicht.«
    Aber das ist genau die Art von Sätzen, mit denen Kinder rein gar nichts anfangen können. Und deshalb konzentriert sich Jason mittlerweile darauf, schleunigst etwas älter zu werden, damit all seine dringenden Fragen eine bessere Antwort bekommen können.

    Während Jason auf dem Fußboden seines Kinderzimmers sitzt, summt er leise vor sich hin und überlegt sich all die Sachen, die er heute noch machen könnte. Es ist ein guter Tag. Denn seine Mutter hat Urlaub, und sie hat ihm versprochen, dass sie jetzt zwei Wochen lang ganz viele unglaubliche Abenteuer mit ihm erleben wird. Nur sie beide gemeinsam – verschworen bis aufs Blut und geheimnisvoll vom Tagesanbruch bis zum Heraufdämmern der schaurigen Dunkelheit. Genauso hat Jasons Mutter es gesagt, denn sie sagt gerne spannende Märchensätze zu ihm. Als hätte sie ein Buch verschluckt. So hat es jedenfalls Jasons Vater einmal kopfschüttelnd ausgedrückt. Aber Jason ist sich ziemlich sicher, das sein Vater das nur gesagt hat, weil er selbst überhaupt keine märchenhaften Sätze formen kann. Er kann nur Headlines entwerfen und Sätze mit vielen Ausrufezeichen, die man anschließend in die Zeitungen mit den vielen Bildern drucken kann. Aber Jasons Mutter kann aus Worten richtige Bilder machen; sie erzählt ihm von Zauberlöwen und fliegenden Schreibtischen, sie berichtet von dem Geschmack blauer Erdbeeren und der Aussicht von grün-gelb gepunkteten Häusern ohne Dächer.
    Jason findet das toll. Er würde seine Mutter für nichts in der Welt eintauschen, so wie es die erwachsenen Männer manchmal im Fernsehen machen. Die tauschen ihre Frauen einfach weg und haben dann zwei Wochen lang eine andere Frau im Haus. Diese fremde Frau ist dann meistens für irgendein armes Kind die neue Mama, und erst wenn wieder zurückgetauscht wird, bekommt das Kind seine richtige Mama wieder. Und diese Mama hat dann wegen der zwei ausgetauschten Wochen mit großer Wahrscheinlichkeit ein schlimmes Trauma, und das führt zu einem Ehekrach und anschließend zu einem Scheidungskrieg und von da aus weiter zu vielen anderen Formalitäten. Das weiß Jason, weil sein bester Freund Felix und er manchmal heimlich Erwachsenen-Fernsehen schauen und dabei über die vielen Dummheiten der Großen lachen. Aber sie tun das nicht allzu oft, denn Felix ist ein schüchterner und gut erzogener Junge, der seine Eltern sehr liebt. Außerdem weiß er, dass seine Eltern einmal eine Tochter hatten, die sie sehr vermissen. Er weiß sogar, dass seine Mutter früher jeden Tag an dem rauschenden Fluss in der Nähe vom Schlosspark stand.
    Nur um hinabzusehen.
    In die Tiefe.
    Und auch Jason ist ein gut erzogener Junge, der jedes Mal ein furchtbar schlechtes Gewissen bekommt, wenn er etwas tut, das seine Eltern ihm verboten haben. Sein Vater kommt zwar selten dazu, weil er so viel arbeiten muss, aber seine Mutter hat ihm verboten, zu Fremden ins Auto zu steigen, Fremde ins Haus zu lassen, mit Fremden mitzugehen, Fremde im Fernseher zu beobachten, und Fremde mit Gummidrops zu
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