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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo
Autoren: corley
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nicht wahr? Durchaus imstande, es mit einem Mann im Kampf aufzunehmen.«
    Er versuchte, sie zu provozieren, und wenn sie emotional reagierte, würde er das zu seinem Vorteil ausnutzen. Der Gedanke machte sie wütend, aber dadurch wurde ihr Verstand geschärft und jedes aufwallende Gefühl unter die Oberfläche gedrängt.
    »Ich habe den Angeklagten nicht angegriffen. Er hat mich angesprungen und zu Boden gerissen. Es gibt Beweise dafür, dass er mir in den Büschen aufgelauert hat.«
    »Wie groß sind Sie?«
    »Einen Meter achtundsiebzig.«
    »Wie viel wiegen Sie?«
    »Das weiß ich wirklich nicht.«
    »Ach, kommen Sie, Sergeant, alle Frauen kennen ihr Gewicht bis aufs Gramm genau.«
    »Ich nicht.«
    »Verstehe.« In seinem Tonfall schwang mit, dass sie der Frage ausweichen wollte.
    »Würden Sie den Angeklagten bitte anschauen.«
    Nightingale leckte sich die trockenen Lippen. Sie hatte seinen Blick die ganze Zeit gemieden. Mit einer leichten Drehung des Kopfes richtete sie die Augen auf die Brust des Angeklagten. Sein Kinn und sein Mund waren genau am oberen Rand ihres Gesichtsfeldes, und sie senkte den Blick noch ein wenig.
    »Wie groß würden Sie ihn schätzen?«

    33

    Riesengroß, dachte sie. »Ich weiß nicht.«
    Wieder ein ungehaltenes Seufzen.
    »Er ist einen Meter fünfundsiebzig, kleiner als Sie.« Er machte eine bedeutungsschwangere Pause. »Wohl kaum ein unbezwingbarer Gegner für eine durchtrainierte, groß gewachsene Frau wie Sie.«
    »Wenn man auf dem Boden liegt, mit einem Messer an der Kehle, sehen alle Männer groß aus … Sir.« Einige Frauen auf der Geschworenenbank nickten verständnisvoll, und Nightingale nutzte ihren Vorteil weiter aus. »Und ich befand mich nicht gerade in einem geeigneten Zustand, um ihn anzugreifen. Ich hatte eine Gehirnerschütterung – die Rönt-genbilder zeigen eine schwere Prellung an meinem Hinterkopf«, sie spürte wieder das Knacken im Kopf, als sie auf die Steine aufgeschlagen war, »ein verstauchtes Handgelenk und eine ausgekugelte Schulter, Blutergüsse im Gesicht und an den Oberschenkeln«, er war beängstigend stark gewesen,
    »und ich musste mir zwei Zähne überkronen lassen.«
    »Das sagen Sie, Sergeant, aber woher sollen die Geschworenen wissen, dass Sie sich die Verletzungen nicht selbst zugezogen haben oder dass sie Ihnen nicht von Ihren Kollegen zugefügt wurden, um Beweise gegen meinen Mandanten zu fingieren?«
    Seine Gefühllosigkeit ließ sie nach Luft schnappen, und entsetzt merkte sie, dass ihr Tränen in die Augen schossen, doch als sie einen Blick zum Tisch der Anklagevertretung riskierte, sah sie verstohlen lächelnde Münder. Verwirrt schaute sie zu den Geschworenen hinüber. Fünf Frauen, sieben Männer; alle blickten schockiert, eine unverhohlen wü-
    tend. Stringer hatte sich verrechnet.
    »Entschuldigen Sie«, flüsterte sie und nahm zittrig einen Schluck Wasser.

    34

    »Geht es Ihnen gut?« Der Richter beugte sich besorgt vor.
    »Ich bin sicher«, sagte er mit einem vielsagenden Blick zu Stringer, »dass die Befragung sich dem Ende zuneigt.«
    Und tatsächlich. Der Verteidiger stellte noch ein paar Fragen, aber seine Attacken waren nicht mehr ganz so vehement. Nach zehn Minuten verließ Nightingale den Zeugenstand, und der Richter unterbrach die Sitzung für die Mittagspause.
    Auf der Fahrt nach Hause fielen ihr die Lobesworte des Staatsanwalts wieder ein, aber sie bedeuteten ihr nichts. Sie war bedrückt, weil sie ab und zu gezögert oder eine schwache Antwort gegeben hatte, und war der festen Überzeugung, dass sie die Befragung besser hätte bewältigen müssen.
    In der obersten Etage, mit Blick über die Bäume, steckte Nightingale den Schlüssel in das solide Sicherheitsschloss und war endlich zu Hause. In ihren eigenen vier Wänden. Der einzige kleine Segen, den ihr der Tod ihrer Eltern beschert hatte, war finanzielle Unabhängigkeit. Sie hatten ihr keine Reichtümer hinterlassen, aber wegen Geld musste sie sich keine Sorgen mehr machen. Sie hob eine Hand, um eine Fliege zu verscheuchen, und wischte die unerfreuliche Realität beiseite, dass sie aus dem Verlust ihrer Eltern einen Vorteil zog. Der Gedanke machte ihr ein schlechtes Gewissen, und sie bekam Magenschmerzen.
    Ein Lämpchen blinkte an ihrem Anrufbeantworter: drei Nachrichten. Eine von ihrem Bruder, der sich genauso an-hörte wie ihr Vater.
    »Komm uns doch am Wochenende besuchen. Ich habe zur Abwechslung mal Sonntag und Montag frei.« Mit seinen siebenundzwanzig Jahren war
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