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Copyworld: Roman (German Edition)

Copyworld: Roman (German Edition)

Titel: Copyworld: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Szameit
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digitalen Virtualität stehlen würde, entzündete er eine Leuchtperle.
    Wie wunderbar ist das, hatte er
gedacht, dieselbe Menge Energie, die mir wenige Kubikmeter Nacht erhellen
würde, ist imstande, für einen Tag eine ganze Welt zu erschaffen…
    Hyazinth streckt sich genüßlich.
Das Rascheln und Knistern des Kokons aus Fadenschaum verdirbt ihm längst nicht
mehr die Freude auf den kommenden Tag. Seit er weiß, daß er trotz der leichten
Störung seiner Chromosomenstruktur die Weihe der Reinheit erhalten wird,
verursacht ihm das ungewöhnliche Leiden keine Seelenqualen mehr. Alles fügt
sich ihm auf wunderbare Weise zum Wohle: Die Weihen der Prägung erhielt er
sämtlich vor der Zeit, denn zu Recht bezeichnete Masterteacher Opal Stein ihn
als seinen besten Schüler – und auch die Weihen des Leibes werden ausnahmslos
vor Erreichen des vorgeschriebenen Alters an ihm vollzogen sein, wenn er das
Ritual der Reinheitsweihe absolviert hat.
    Spielerisch schnippt er gegen
Federchens samtigen Hinterleib, und seine treue Fadenschaumspinne schwebt
schnurrend und zirpend davon, um in ihrem Nest unter der Kammerdecke Kraft für
die nächste Nacht zu sammeln. Dann zerreißt Hyazinth seufzend das feine
Gespinst, das ihn von Kopf bis Fuß einhüllt. Der Fadenschaum ist nur ein Gewand
für die Nacht, da er unter der sengenden Glut der Sonne zu klebrigem Schleim
zerfließt. Für den Tag hat er sein Trikot aus Mykorrhizafasern, dem feinen
Gewebe aus speziell gezüchteten Pilzfäden, die einen Wirkstoff absondern und
das Wuchern der Wachsschuppen hemmen. Allerdings entziehen sie dem Körper über
die tief in die Blutgefäße gesenkten Wurzelkapillaren zahlreiche Nährstoffe,
und Hyazinth ist es sehr peinlich, daß er seine Freßsucht immer wieder mit dem
Hinweis auf sein Leiden entschuldigen muß.
    Was sind meine Wachsschuppen
gegen die furchtbaren Qualen, denen die Menschen außerhalb der Zentralstadt
ausgesetzt sind!   Bisher hat Hyazinth nur
wenige dieser gespenstischen Kreaturen gesehen. Aber allein dies Erlebnis hat
ihm die tiefe Überzeugung gegeben, daß der Weg der Großen Umkehr der einzig
mögliche ist, die Verbrechen der Ahnen an ihrer eigenen Art zu mildern. Opal
hat in kargen Worten die Ursachen für die schrecklichen Verkrüppelungen
genannt: Schwere genetische Deformationen, hervorgerufen durch
unverantwortliche Manipulationen am menschlichen Erbgut, die anfangs nichts
weiter zum Ziel hatten, als den Menschen Schönheit zu geben. Später jedoch
sollten diese Eingriffe auch charakterliche Vorzüge manifestieren, und in
dieser Phase verloren die Vorfahren die Kontrolle über den Prozeß...
    Welch eine Erlösung muß es für
diese Wesen sein, von denen manche kaum noch menschliche Züge tragen,
Unsterblichkeit in einer farbenprächtigen, nach ureigensten Wünschen und
Vorstellungen geschaffenen Welt zu erlangen!
    Hyazinth wischt sich eine Träne
der Rührung aus dem Augenwinkel. Welch eine Erlösung für die anderen – und
welch eine Ehre für ihn, teilhaben zu dürfen an diesem gewaltigen Werk, das
Opfer der Sterblichkeit für das Glück der Menschheit zu bringen. Allerdings...
mehr als Rührung kann er an positiven Gefühlen nicht in sich entdecken, wenn
seine Gedanken um die schwerste Prüfung des Martyriums kreisen wie Fliegen um
den Käse. Warum zum Teufel dürfen die Märtyrer nicht ebenfalls in die
Unsterblichkeit eingehen, warum muß er - Hyazinth Blume - als Lohn für sein
Wirken zum Wohle der Gemeinschaft ins Gras beißen! Diese Gewißheit macht ihm schwer
zu schaffen, die Gewißheit, daß dieser Tag kommen wird. Warum, warum, warum,
verdammt?! Wenigstens liegt sein Letzter Tag noch in weiter, kaum faßbarer
Ferne... Das tröstet ihn ein wenig.
    Nackt tritt er vor die
Panoramawand seiner Wohnblase und schaut auf Villafleur hinab. Seit er die
Erlaubnis erhielt, seine Wohnblase an der Spitze des hoch in die Wolken
ragenden Trägerkerns des Internats zu plazieren, hat sich ihm das Ritual der
morgendlichen Sammlung – einst mehr oder minder lästige Pflicht – zu einem
echten Bedürfnis gewandelt.
    Jeden Morgen erfüllt es ihn
erneut mit schier unversiegbarer Kraft, wenn die von den Konturen mächtiger
Bauwerke zerklüftete Horizontlinie in lohendem Feuerschein aufflammt, und wenn
dann die gewaltige Sonnenscheibe wie aus einer Gruft der Erde entsteigt -
unaufhaltsam, geradezu ein Gleichnis auf den neuen Weg der Großen Umkehr, der
die Menschen ebenso unaufhaltsam in Abermilliarden Welten voller Glück
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