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Coltan

Coltan

Titel: Coltan
Autoren: Ivo Andress
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aberwitzigen Märkten, Finanzkrisen, die einen
von jetzt auf gleich den Job kosten können. Egal, wie die Börsen ticken,
irgendwer tickt immer aus. Die einen liegen einfach nur friedlich da, andere
wirken verkrampft, haben verzweifelt dagegen angekämpft. Alte und junge, die
noch nicht einmal stehen konnten. Ich bin ihre zweite Existenz, ihr Leben nach
dem Tode. Erst fressen sie sich durch meine Augen in meinen Kopf. Dann
verfallen sie scheinbar in Apathie, verstecken sich, versuchen nicht
aufzufallen. Das kann Tage, Wochen, Monate dauern. Aber nie ewig. Irgendwann
kommt sie, diese erste Nacht, in der sie zum Leben, zu neuem Leben erwachen.
Unangekündigt, ohne jede Vorwarnung fallen sie über mich her.
    „Schlaf Kindchen, schlaf …“
    Ich hatte an der Kordel gezogen und sofort
setzten sich die Walzen irgendwo im Bauch des Teddys in Bewegung: „Schlaf
Kindchen, schlaf …“.
    Mitten im Zimmer lag das Baby. Auf einer roten
Decke. Die Lippen aufgeplatzt, der rechte Oberschenkel, gerade mal
handtellergroß, nur noch ein schwarz-blauer Fleck. Das linke Ärmchen doppelt abgewinkelt,
spitz stieß die gebrochene Elle durch die Haut. Und er stand da, die Arme vor
der Brust, reglos: „Er hat geschrien. Immerzu. Die ganze Zeit.“
    Monatelang glaubte ich, die Welt wäre voller
Spieluhren. In jeden Moment der Ruhe drängte sich die Melodie und mit ihr das
Bild aus dem Kinderzimmer.

5
    Das unaufdringliche aber stetige Summen des
Telefons riss mich in die Realität zurück. Der Park am Kanal, Routine. Keine
Aufregung, kein Abscheu in der Stimme des Kollegen. Nichts, was auf gespaltene
Schädel oder aus dem Bauch quellende Innereien deutete. Eine Tote, mehr nicht.
    Zwanzig Minuten später, bewaffnet mit den
Insignien des einsamen Großstädters, Croissant und ein Pappbecher Latte macchiato,
rolle ich in den Park, der vor wenigen Jahren noch ein Ort der Weltenteilung
war. Doch an den Grenzstreifen erinnert nur noch der einsame Turm. Die Wunden
der Stadt sind vernarbt.
    Quer über dem Weg schaukelt ein Absperrband
träge vor sich hin. Mader wirft mir ein Paar Latexhandschuhe zu, es ist Freitag,
8 Uhr 45 Minuten, ein Freitag im August.
    „Morgen Gallert.“
    „Morgen? Morgen hätt´ ich frei. Und?“
    „Eine Frau. Mitte, Ende 20. Wahrscheinlich ertrunken.
Der Junge da hat sie raus gezogen.“
    Mader hat die Enttäuschungen noch vor sich.
Seit zwei Jahren gehört sie zur Abteilung. 27 Jahre. Noch kommen ihr die Tränen.
Manchmal verfluche ich den Tag, an dem sie sich für Mord und Totschlag entschieden
hatte, an dem sie ihr Leben, zumindest einen Teil davon, der zivilisierten Form
der Vergeltung opferte.
    Als ich sie zum ersten Mal still weinend vor
den Fotos einer toten Frau sitzen sah, wurde mir bewusst, was aus mir geworden
war in all den Jahren. Was mich trieb, war nur noch die Angst, irgendwer könnte
denken, ich sei der Sache nicht mehr gewachsen.
    Mader sieht mich wartend an, deutet mit einer
Kopfbewegung Richtung Uferböschung. Warum hat niemand eine Plane über die Tote
gedeckt? Polizisten in Uniform stochern in den Büschen, nein, das ist kein
Tatort, sie werden nichts finden. Die Frau liegt auf dem Rücken. Sie trägt
keine Schuhe, keine Strümpfe. Keine Schürfwunden an den Schenkeln, glatte,
runde Knie. Über dem Knöchel am linken Fuß ein kleines Tattoo, die Lilie.
    Mader sagt etwas, ihre Lippen bewegen sich weit
auseinander. Ich weiß, dass ich nur nicken muss, mehr wird nicht erwartet.
    „Keine Papiere, billige Dessous. Ein wenig
aufgehübscht. Irgendwie nuttig. Aber hier ist nirgendwo ein Strich.“
    Ich gehe langsam in die Knie, beugte mich über
ihr Gesicht, drehe den Kopf nach links, nach rechts.
    „Keine blauen Flecken, nichts.“
    Jetzt greift Mader nach dem Saum des Minis,
dreht ihn um, sucht das Etikett.
    „Kyrillisch! Vielleicht eine Hure aus dem
Osten?“
    Sagt sie wirklich, was ich zu hören glaube. Sie
will nicht mehr als ein Nicken. Keine Diskussion, nicht hier, nicht jetzt. Gut.
Was gestern noch dunkle Ahnung, ist jetzt Wirklichkeit - unwiderruflich.

6
    Niemand hatte etwas gesehen, gehört. Keiner
kannte die Tote. Ich hatte nichts anderes erwartet. Mader legte gewissenhaft
eine Akte an. Fotos, Tatortskizze, eine Liste der Asservate: Dessous von Woolworth,
der Mini osteuropäischer Herkunft. Vermutete Todesursache: Ertrinken, kein
Fremdverschulden. Ich telefonierte mit den Agenturen, schickte das Foto raus, wissend,
dass sich niemand melden würde.
    Im Büro nahm die Quecksilbersäule
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