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Codewort Rothenburg

Codewort Rothenburg

Titel: Codewort Rothenburg
Autoren: Béla Bolten
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sein Kollege Rösen, und das verhieß Unheil. Langsam, um jegliches Knarren zu vermeiden, öffnete er die Tür. Rösen schlüpfte herein.
    »Wir haben eine Tote in Charlottenburg.«
    »Der S-Bahn-Mörder?«
    »Wäre ich dann hier?«
    »Stimmt. Wir sind ja nur für den sonstigen Abschaum dieser Stadt zuständig. Auf jeden Fall hättest du mich nicht mitten in der Nacht zum Sonntag aus dem Schlaf schrecken müssen.«
    Rösen verzog das Gesicht zu einem Grinsen.
    »Du siehst nicht so aus, als hätte ich dich aus dem Bett geholt. So wie du riechst, hast du gerade noch an der Flasche gehangen.«
    Daut ärgerte sich, dass er den Schluck Wacholder genommen hatte, anstatt sich die Zähne zu putzen. Er trank gerne einen über den Durst und mitunter auch ein bisschen mehr. Wenn Luise wütend war, warf sie ihm das vor. Aber tranken nicht alle zu viel? Oft stand am Werderschen Markt schon tagsüber die Weinbrandflasche auf den Schreibtischen. Es war eine Zeit zum Trinken. Außerdem musste Rösen still sein. Er sah aus wie ausgekotzt, scheinbar war er noch nicht im Bett gewesen. Der Kollege riss Daut aus seinen Gedanken.
    »Es ist eine Frau, Axel. Jung. Hübsch ...«
    »Und tot«, fiel Daut ihm ins Wort. »Sie ist nicht die Erste ‒ und sicherlich auch nicht die Letzte.«
    Kaum hatte er es ausgesprochen, bedauerte er seinen Zynismus. Die verfluchte Stadt und die Arbeit hatten ihn verändert. Er mochte sich nicht, wenn er so redete.
    »Kommst du jetzt mit, oder muss ich mir allein da draußen die Beine in den Bauch stehen?« Rösen wendete sich zur Tür.
    Daut machte eine wegwerfende Handbewegung:
    »Gib mir fünf Minuten.«

Drei

    »Verdammt, macht das Licht aus, ihr Idioten! Oder wollt ihr, dass die Tommies uns in Klumpatsch hauen?«
    Krachend schloss der Mann das Fenster und zog das Verdunkelungsrollo herunter. Vor der stockfinsteren Fassade des Häuserblocks in der Gervinusstraße wirkte der von vier Scheinwerfern erleuchtete Tatort wie eine Oase in einer düsteren Wüste, trotz der finsteren Geschehnisse, die sich hier kurz zuvor abgespielt haben mussten. Direkt hinter ihnen rumpelte die erste S-Bahn des Tages in den Bahnhof Charlottenburg. Daut drehte sich zu dem unbekannten Fensterrufer um. Obwohl er längst wieder in seiner hermetisch abgedunkelten Wohnung verschwunden war, rief er hinauf:
    »Keine Sorge - viel zu spät!«
    Gleich würde es hell werden, dann kamen die Flieger nicht mehr. Überhaupt war es in den vergangenen Wochen erstaunlich ruhig gewesen. Die Engländer konzentrierten sich auf andere Städte. Aber die Angst ging um in Berlin. Nicht nur wegen der Luftangriffe, mehr noch wegen der S-Bahn-Morde. Am Tatort herrschte die übliche Betriebsamkeit. Sechs Männer liefen herum. Was für den Laien chaotisch wirken mochte, folgte einer seit Jahren eingespielten Choreografie. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Den Platz rund um die Leiche absuchen, jeden noch so alltäglich wirkenden Gegenstand sicherstellen, denn er könnte sich später als wichtige Spur entpuppen. Der Fotograf schob immer neue Lampen in sein Blitzgerät. Die Tote musste von allen Seiten abgelichtet werden. Den Platz selber konnte er festhalten, wenn das Tageslicht ausreichte. Der Arzt beugte sich über den Leichnam. Die Frau war um die dreißig Jahre alt und ausgesprochen elegant gekleidet, was in dieser Gegend nicht verwunderte. Sie lag rücklings auf dem Rasen, die Beine ausgestreckt, die Hände auf dem Bauch gefaltet. Sie schien etwas in den Fingern zu halten, was Daut aus der Entfernung nicht erkennen konnte. Er ging nicht näher heran. Das brachte nichts. Allenfalls wurden die Kollegen wütend und ihm übel. Er konnte keine Toten sehen. Er hatte mehr gesehen, als einem Menschen zuzumuten waren. Der kleine Finger an der linken Hand juckte. Er blickte hinunter. In der Eile hatte er den unpassend eleganten, schwarzen Lederhandschuh übergezogen, den Luise ihm vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Das Jucken wurde stärker. Manchmal half es, wenn er sich auf das geschnitzte Stück Holz konzentrierte, das sich genau an der Stelle befand, an der ihn der Juckreiz peinigte. Er schloss die Augen und stellte sich seinen kleinen Finger vor. Was wohl mit ihm passiert war? Hatte man seine Hand auf den Müll geworfen, wo sich ein Schwein daran gütlich tat? Ein tröstlicher Gedanke, dass sein nutzlos gewordenes Körperteil noch einen Zweck erfüllte. Sie hielt ein Tier am Leben, dessen Fleisch am Ende als Mettwurst auf dem Holzbrett eines
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