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Chronos

Titel: Chronos
Autoren: Robert Charles Wilson
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recht mit dem, was sie gesagt hatte. Es wurde Zeit, dieses Gebein der Trauer zu all den anderen Gebeinen zu legen. Es nicht zu begraben, sondern es an seinen Platz zu legen, im Gewölbe der Zeit, der unwiederbringlichen Vergangenheit, wo die Erinnerung lebte.
    Er stieg wieder in seinen Wagen und fuhr zurück nach Belltower.
    Zurück zu dem entscheidenden Rätsel seines jetzigen Lebens: Joyce.
    Er entdeckte sie auf der Post Road unterwegs zu dem kleinen Lebensmittelladen oben am Highway.
    Er stoppte neben ihr und öffnete die Beifahrertür. Sie stieg ein.
    Nach Toms Berechnung war sie im Februar dieses Jahres fünfzig geworden. Sie hatte etwas zugenommen, hatte mehr Falten im Gesicht, hatte graue Strähnen in ihrem Haar. Sie trug verwaschene Jeans, die an den Oberschenkeln etwas zu eng war, dazu ein schlichtes gelbes Sweatshirt und Turnschuhe für den langen Fußweg auf der Straße. Die Spuren der Zeit, dachte Tom. Ihre Stimme klang rauchig und etwas tiefer, als er sie in Erinnerung hatte. Vielleicht hatten die Zeit oder ein unruhiges Leben das bewirkt. Ihre Augen verrieten Letzteres.
    Sie musterte ihn vorsichtig. »Ich war mir nicht ganz sicher, ob du zurückkommen würdest.«
    »Ich mir auch nicht.«
    »Hast du noch immer vor, die Stadt zu verlassen?«
    Er nickte.
    »Ich hatte gehofft, dass wir miteinander reden können.«
    »Das können wir auch«, sagte Tom.
    »Du warst nicht oft hier. Na ja, Teufel auch. Es muss für dich ein Schock sein, mich so zu sehen.«
    Es stimmte, aber es klang schrecklich. Er versicherte ihr, dass sie gut aussehe. Sie sagte: »Ich sehe meinem Alter entsprechend aus, so gut oder so schlecht. Tom, ich habe diese siebenundzwanzig Jahre gelebt. Ich weiß, was ich erwarten kann, wenn ich in den Spiegel blicke. Du bist aufgewacht und hast etwas anderes erwartet.«
    »Du bist weggegangen«, sagte er. »Ehe ich die Chance hatte, mich von dir zu verabschieden.«
    »Ich bin verschwunden, sobald ich wusste, dass es dir gutgeht. Willst du wissen, warum?« Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und blickte in den blauen Septemberhimmel. »Ich bin weggegangen, weil ich der Verbindung zwischen uns nicht getraut habe. Ich bin weggegangen, weil ich hier keine Laune der Natur sein wollte ... oder dich dort zu einer solchen machen wollte. Ich bin weggegangen, weil ich Angst hatte und nach Hause zurück wollte.
    Ich bin gegangen, weil Ben mir mitteilte, der Tunnel würde in Ordnung gebracht, und die Wahl, die ich treffen würde, müsste meine letzte sein. Daher ... zurück nach Manhattan, zurück ins Jahr 1962. Man denkt immer, dass man von vorne anfangen kann, aber am Ende stellt sich heraus, dass es nicht geht. Lawrence ist tot. Das hat einiges verändert. Und ich war hier gewesen, ich konnte einen Blick in die Zukunft werfen. Und selbst ein ganz winziger, kurzer Blick verändert einen. Zum Beispiel, erinnerst du dich an Jerry Soderman? Der Bücher schrieb, die niemand veröffentlichen wollte? Er machte seinen Weg als Lektor, wurde tatsächlich in den Siebzigerjahren gedruckt – literarische Romane, die kaum jemand las, aber er war richtig stolz auf sie. Zwei Monate nachdem ich zurückgekommen war, erzählt Jerry mir, dass er schwul ist; er wolle es nicht mehr verbergen, sondern ganz offen zugeben. Schön, aber der einzige Gedanke, den ich hatte, war: Hey, Jerry, ab 1976 oder so solltest du aber vorsichtig sein, was du treibst. Ich habe ihn tatsächlich in der Zeit angerufen, hatte Jahre nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich sagte, Jerry, es gibt da eine Krankheit, und ich kann dir verraten, wie du dich davor schützt. Er sagte, nein, so etwas gibt es nicht, und woher willst du das denn so genau wissen? Wie dem auch sei ... Jerry ist vor zwei Jahren gestorben.«
    »Das tut mir leid«, sagte Tom.
    »Es ist nicht deine Schuld, nicht seine Schuld und nicht meine Schuld. Der Punkt ist der, ich konnte einfach nicht zurücklassen, was mit dir und mir und diesem Ort passiert ist. Ich habe es versucht! Und wie ich es versucht habe. Ich habe jede Anstrengung unternommen, es zu vergessen, und ich habe mein Leben gelebt. Ich war fünf Jahre lang verheiratet. Ein netter Kerl, eine schlechte Ehe. Ich hab eine Zeit lang als Backup-Sängerin gearbeitet, aber das war nicht sehr schön ... Dann habe ich getrunken, wodurch meine Stimme ruiniert wurde. Und, weißt du, ich bin für die Bürgerrechte, gegen den Krieg, für saubere Luft auf die Straße gegangen. Als sich alles etwas beruhigte, nahm ich einen Job als Sekretärin in
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