Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Chronos

Titel: Chronos
Autoren: Robert Charles Wilson
Vom Netzwerk:
Kindheit auf. Ein feuchter Windhauch fuhr durch die hellen Härchen auf seinen Armen. Ein Kolibri schoss hoch, betrachtete ihn ungehalten und schwirrte davon.
    Er kehrte zum Haus zurück.
    Tony rief nach dem Mittagessen an und sprach eine weitere Einladung zum Abendessen aus. Dieses Angebot konnte Tom schlecht ablehnen. »Komm rüber«, sagte Tony. »Wir heizen den Grill an.« Es war sowohl ein Befehl als auch eine Einladung. Eine Schuld musste abgetragen werden.
    Tom ließ das schmutzige Geschirr in der Spüle stehen. An der Tür verharrte er kurz und drehte sich zum leeren Haus um.
    »Wenn du sauber machen willst, nur zu.«
    Keine Antwort.
    Nun ja.
    Die Fahrt zu Tonys Haus war ziemlich lang. Tony und Loreen wohnten in der Gegend um Sea View. Dort standen vorwiegend terrassenartig angeordnete Häuser, die sich an die Hänge der zur Bucht abfallenden Hügel südlich der Stadt schmiegten. Die Gegend war ziemlich renommiert, doch das Haus, in dem Tony wohnte, war nicht besonders auffällig. Tony war protestantisch zurückhaltend, was die offene Zurschaustellung von Wohlstand betraf. Tonys Haus war eher eines der schlichteren Bauten. Seine glatte weiße Fassade verbarg die wahre, elegante Pracht: die riesigen Fenster und die Kiefernholzveranda mit Blick auf das Meer. Tom parkte in der Auffahrt hinter Loreens Aerostar und wurde an der Tür von der gesamten Familie begrüßt: von Tony, dem fünfjährigen Barry, von Loreen mit der quengeligen acht Monate alten Tricia auf dem Arm. Tom lächelte und wagte sich in das Geruchsgemisch aus imprägniertem Teppichboden, Möbelpolitur und Pampers.
    Er hätte sich gerne in Ruhe hingesetzt und sich für eine Weile mit Loreen unterhalten. (»Die arme Loreen«, sagte Barbara immer. »Sie spielt Tony seine Vorstellung von Hausfrau vor. Nur Windeln und Romanschnulzen von Barbara Cartland.«) Aber Tony legte ihm einen Arm um die Schultern und geleitete ihn durch den großzügigen Wohnraum hinaus zur Veranda, wo sein Propangasgrill bereits gefährlich zischte.
    »Setz dich«, sagte Tony und deutete mit einer Grillzange auf einen Liegestuhl.
    Tom ließ sich nieder und sah seinem Bruder zu, wie er Steaks mit einer roten Sauce bestrich. Tony war fünf Jahre älter als Tom, hatte bereits eine beachtliche Glatze, wirkte aber körperlich fit. Die Falten um seine Augen deuteten eher auf sportliche Aktivitäten und Sonne hin als auf Alter. Es wäre schwierig, dachte Tom, zu erraten, wer von uns beiden der Ältere ist.
    Es war Tony, der wie ein zorniger Schutzengel nach Seattle gerauscht kam – sechs Monate nachdem Barbara aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war; fünf Monate nachdem Tom seinen Job bei Aerotech hingeworfen hatte; drei Monate nachdem Tom aufgehört hatte, ans Telefon zu gehen. Tony hatte die leeren Flaschen und Fertiggerichtpackungen aus der Wohnung geschafft, hatte den Fernseher ausgeschaltet, der seit Wochen ununterbrochen flackerte und murmelte, und Tom dann zum Duschen und Rasieren verdonnert. Dann hatte er ihn überredet, nach Belltower zurückzugehen und den Job im Autohandel zu übernehmen ...
    Es war ebenfalls Tony, der, um ihn zu trösten, festgestellt hatte: »Barbara ist ein Miststück, kleiner Bruder. Eigentlich sind sie alle verkommene Luder. Scheiß auf sie.«
    »Sie ist kein Miststück«, hatte Tom widersprochen.
    »Alle sind Schlampen.«
    »Nenn sie nicht so«, hatte Tom gesagt, und er erinnerte sich an Tonys Blick, als die Arroganz zu Unsicherheit zerfiel.
    »Naja ... du darfst auf jeden Fall dein Leben wegen ihr nicht wegwerfen. Es gibt immer noch eine Menge Menschen, die ihr Leben zu meistern versuchen ... Menschen mit Krebs, Menschen, deren Kinder auf dem Highway von Rasern überfahren wurden. Wenn sie mit solchen Schicksalsschlägen zurechtkommen, dann kannst du das allemal.«
    Darauf gab es nichts zu erwidern, und es stimmte auch noch. Tom nahm die Strafe an und lebte fortan damit. Barbara wäre damit nicht einverstanden gewesen. Sie missbilligte die Ausbeutung öffentlichen Leids für private Zwecke. Tom war da etwas pragmatischer. Man tut, was man tun muss.
    Aber da war er nun in Tonys großem Haus an der Bucht, und es kam ihm so vor, als trüge er eine beachtliche Last an Schuld, Dankbarkeit und Abneigung, die vorwiegend gegen seinen Bruder gerichtet war.
    Er machte Konversation, während die Steaks über dem Feuer brutzelten. Tony antwortete mit seinem eigenen Geplapper. Tony hatte den Gasgrill »praktisch zum Großhandelspreis« von einem Mann gekauft,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher