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Chronos

Titel: Chronos
Autoren: Robert Charles Wilson
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konzentrieren, verschmolz es in seinen Ohren mit den allgemeinen Nachtgeräuschen, dem Knistern und Knarren kleiner Gelenke. Genauso wie jedes andere Haus, dachte Tom, dürfte auch dieses sich im Rhythmus seiner Erwärmung und Ausdehnung seiner Balken bewegen und dabei ächzen und stöhnen.
    Umgeben von Dunkelheit und dem Summen seiner eigenen Gedanken schlief er endlich ein.
    Der Traum kam nach Mitternacht, aber weit vor dem Morgengrauen – es war drei Uhr, als er erwachte und auf die Uhr sah.
    Der Traum begann wie fast alle Träume. Er stritt sich mit Barbara oder hörte sich wieder einmal eine ihrer massiven Anklagen an. Sie hatte ihn der Mitschuld an irgendeiner schlimmen, globalen Katastrophe bezichtigt: der Erwärmung der Erde, der Meeresverschmutzung, des Atomkrieges. Er beteuerte seine Unschuld (zumindest seine Unkenntnis), aber ihr kleines Gesicht mit der Stupsnase und den wütend zusammengepressten Lippen drückte einen derart tief verwurzelten Unglauben aus, dass er seine eigene Schuld beinahe riechen konnte.
    Aber das war nur eine weitere Variation dessen, was zum üblichen Barbara-Traum geworden war. In jeder anderen Nacht wäre er an dieser Stelle zu Ende gewesen. Er wäre aufgewacht, überwältigt von Selbstzweifeln. Er hätte sein Gesicht mit kaltem Wasser bespritzt und wäre in sein Bett zurückgewankt, wie ein kampfesmüder Soldat in seine Grabenstellung zurückschlurfte.
    Diesmal jedoch ging der Traum in ein anderes Szenario über. Plötzlich war er allein. Er befand sich in einem Haus, das genauso war wie dieses Haus, nur größer, leerer. Er lag in einem Zimmer mit einem einzigen hohen Fenster. Diffuses Mondlicht hüllte nur sein Bett ein und beließ den Rest des Zimmers in höhlenartiger Finsternis.
    Und in dieser Finsternis bewegten sich irgendwelche Dinge.
    Er konnte nicht feststellen, um welche Dinge es sich handelte. Die Füße klickten wie Katzenklauen auf dem harten Fußboden, und die Wesen schienen in einem hohen, summenden Falsett miteinander zu flüstern. Sie benutzen eine Sprache, die er noch nie gehört hatte. Er dachte an Elfen oder an übergroße, sprechende Ratten.
    Aber das Schlimmste war ihre Unsichtbarkeit – die sich mit seiner eigenen Hilflosigkeit verband, wie ihm plötzlich bewusst wurde.
    Er erkannte, dass der Raum keine Tür besaß; dass das Fenster unendlich hoch war; dass seine Arme und Beine nicht nur steif, sondern gelähmt waren.
    Er wollte hochkommen, starrte in die Dunkelheit ...
    Und sie öffneten die Augen – alle zugleich.
    Hundert Augen, die ihn umringten.
    Hundert Scheiben reinen, pupillenlosen, knochenweißen Lichts.
    Das Flüstern steigerte sich zu einem metallischen, klappernden Crescendo ...
    Und er erwachte.
    Er erwachte allein in diesem kleineren, helleren, aber immer noch vom Mond beschienenen und fremden Raum.
    Er erwachte mit wild pochendem Herzen.
    Er erwachte mit dem Klang, der immer noch in seinen Ohren nachhallte:
    Dem Zischen ihrer Stimmen. Dem Klicken ihrer Nägel.
    Natürlich war es nur ein Traum gewesen.
    Das morgendliche Haus war sauber, leer und nüchtern. Tom ging von seinem Zimmer in die Küche und lauschte dem unvertrauten Scharren seiner Füße auf dem Wollteppich. Er bereitete sich sein Frühstück, gebratene Eier und ein Weißbrothörnchen, und stellte dann das schmutzige Geschirr in die Spüle, als er fertig war. Junggesellenhaushalt. Vielleicht würde der gute Geist des Hauses aufräumen.
    Die Wolkendecke vom Vortag hatte sich verflüchtigt. Tom öffnete die Fliegentür im hinteren Teil der Küche und trat hinaus in den Garten. Der Rasen war sehr kurz geschnitten worden, doch er wuchs wieder nach. Das Unkraut war mindestens ebenso stark vertreten wie das Gras. Hier draußen gab es offenbar keine hilfreichen Hausgeister. Eine Gruppe hoher Kiefern stand außerhalb der Gartenbegrenzung und barg Farn und einen dicken Nadelteppich in ihrem Schatten. Ein zugewachsener Pfad führte von der Gartenecke fort, und Tom folgte ihm ein paar Schritte weit, doch die Bäume schirmten die Sonnenstrahlen ab, und die Luft war plötzlich unangenehm kühl. Er lauschte für einen Moment dem Geräusch tropfenden Wassers irgendwo in dieser feuchten Wildnis. Archer hatte gesagt, der Wald sei ziemlich ausgedehnt, und dass sich hinter dem Anwesen ein mit Kiefern bestandener Sumpf befinde. Archer musste es wissen, dachte Tom, Archer, der Autokiller, der Wegelagerer, der Bergsteiger, der Schulschwänzer ... Allmählich tauchten weitere Erinnerungen aus der
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