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Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch

Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch

Titel: Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Heiliger, aber er hatte ihnen allen eine Chance gegeben, und das war etwas, wofür Oskar ihm dankbar war. Seit seine Freunde hier lebten, war das Haus mit Stimmen und Gelächter erfüllt. Während sie ihren Dienst verrichteten, schlitterten sie lachend und lärmend durch die Flure, ganz so wie die verzauberten Tiere in Hauffs Märchen vom Zwerg Nase. Die Stille und Einsamkeit, die vorher hier geherrscht hatten, waren wie weggefegt. Was hätten sie für einen Spaß haben können, wären da nicht diese strengen Unterrichtsstunden, mit denen Humboldt sie Tag für Tag quälte.
    Eliza war die gute Seele des Hauses. Auf Haiti geboren und von dunkler Hautfarbe, war sie des Forschers Gefährtin und Vertraute und stand ihm bei all seinen Abenteuern zur Seite. Eliza verfügte über geheimnisvolle Fähigkeiten, die an Zauberei grenzten. Zum Beispiel konnte sie mit anderen Menschen Verbindung aufnehmen, nur mittels Gedankenkraft. Oskar hatte keine Ahnung, wie sie das anstellte, aber es klappte. Er hatte es mehr als einmal selbst erlebt.
    Dann war da noch die Kiwidame Wilma. Auch heute leistete der Vogel den Kindern beim Unterricht Gesellschaft. Er hatte seinen kleinen Sprachtornister umgeschnallt, mit dem sich seine Vogellaute in Worte übersetzen ließen, aber Wilma redete nie viel. Ihr Vokabular war äußerst einsilbig und beschränkte sich meistens auf Befindlichkeiten wie »Hunger«, »Durst«, »müde«, »fröhlich«, »traurig« und so weiter. Nichts, worauf sich eine längere Unterhaltung stützen ließ. Trotzdem: Es war verblüffend, dass ein Vogel überhaupt sprechen konnte. Diese erstaunliche Fähigkeit wurde durch ein besonderes Vitaminpräparat ausgelöst, das Wilma täglich einnahm und das auch ihren natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus veränderte. Statt eines rein nachtaktiven Vogels – so wie ihre Verwandten in Neuseeland – hatte Wilma ihren Schlafzyklus an den der Menschen angepasst. Sie war eine treue Begleiterin und bei allen Abenteuern Humboldts mit dabei.
    Das waren alle, die unter diesem Dach wohnten. Ein recht kleiner Haushalt, verglichen mit anderen Häusern Berlins.
    Oskar warf seinen Freunden einen verborgenen Blick zu. Sie hatten gerade erst angefangen, Lesen und Schreiben zu lernen, trotzdem durften sie dem Unterricht beiwohnen und versuchen, hinter das Geheimnis dieser schwierigen Sprache zu dringen. Ihr Bildungsstand war noch viel geringer als seiner. Wie schafften sie es nur, trotzdem so interessiert auszusehen? War es Furcht?
    Mit Humboldt einen Streit vom Zaun zu brechen, war in etwa so sinnlos wie Feuer mit Öl löschen zu wollen. Der Forscher konnte bei Arbeitsverweigerung ausgesprochen hitzig reagieren. Der Gedanke ließ Oskar lächeln. Vielleicht würde ein ordentliches Feuerchen ja die Kälte aus seinen Gliedern vertreiben. Er wollte gerade seinen Aufschrieb fortsetzen, als er bemerkte, dass ein Tropfen Tinte von seinem Federkiel gefallen und auf dem Notizzettel gelandet war. Die Flüssigkeit zog eine hässliche Spur quer über das geneigte Pult. Ehe sie auf seine Hose tropfen konnte, brachte er blitzschnell seine Beine in Sicherheit. Dabei stieß er mit dem Knie gegen Charlottes Tisch. Es gab ein Rumpeln und ein Poltern, dann fiel das Tintenfass hinab. Die schwarze Flüssigkeit spritzte einen Meter weit über das Eichenparkett.
    »Himmel, pass doch auf!« Charlotte sprang auf und blickte entsetzt auf ihr Kleid. »Schau dir das an. Das wollte ich heute Abend tragen.«
    Humboldt trat zwischen die beiden und funkelte Oskar streng an. »Was ist denn hier los?«
    »Es tut mir leid«, stammelte Oskar. »Ich war in Gedanken. Mir war kalt und ich habe nicht auf meine Schreibfeder geachtet.«
    Humboldt musterte die Pfütze am Boden und kräuselte die Lippen. »Hol einen Lappen und wisch das weg. Charlotte, du gehst zu Eliza. Sie weiß am besten, was zu tun ist. Ihr anderen: Es gibt keinen Grund zu lachen. Ich möchte, dass jeder die Deklination des Wortes Domina – Herrin – niederschreibt, und zwar Singular und Plural. Und ein bisschen plötzlich, wenn ich bitten darf.«
    Oskar holte Eimer und Lappen und begann, die Tinte aufzuwischen. »Müssen wir denn wirklich Deklinationen machen?«, maulte er. »Ich meine, heute ist Heiligabend. Alle bereiten sich auf das Fest vor. Überall herrscht Festtagsstimmung, nur bei uns nicht. Es gibt noch eine Menge Dinge zu erledigen«, ergänzte er schnell, als er die steile Falte zwischen den Brauen des Forschers bemerkte.
    »Heiligabend ist keine Ausrede«,
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