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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Autoren: Anne Rice
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herabrollte.
    »Fühlst du den Durst?« fragte ich. Er nickte und sah mich nur flüchtig an, ehe sein Blick wieder über das Meer hinausschweifte.
    »Cut. Dann kehren wir jetzt in dein altes Zimmer zurück, und du ziehst dich für einen Streifzug durch die Welt der Sterblichen an, und dann gehen wir in die Stadt.«
    »So weit?« fragte er und deutete zum Horizont. »Da draußen ist ein kleines Boot.«
    Mein Geist tastete danach und sah es durch die Augen des Mannes, der an Bord war. Eine grausame, unappetitliche Kreatur. Es war ein Schmuggelunternehmen. Und der Mann war erbost, weil seine betrunkenen Kumpane ihn die Arbeit allein tun ließen.
    »Also schön«, sagte ich, »dann gehen wir zusammen.«
    »Nein«, sagte er. »Ich glaube, ich sollte… allein gehen.«
    Er wandte sich ab, ohne auf meine Antwort zu warten, und kletterte flink und anmutig zum Strand hinunter. Wie ein Lichtstreifen bewegte er sich durch das flache Wasser, tauchte in die Wellen und begann mit starken, schnellen Zügen zu schwimmen.
    Ich ging zur Kante des Steilfelsens, fand einen schmalen, zerklüfteten Pfad und wanderte teilnahmslos hinunter, bis ich das Zimmer erreicht hatte. Ich betrachtete die Verwüstungen: den zerbrochenen Spiegel, den umgekippten Tisch, den Computer, der auf der Seite lag. Das Buch war auf den Boden gefallen. Der Stuhl lag draußen auf der kleinen Terrasse auf der Lehne.
    Ich drehte mich um und ging hinaus.
    Ich wanderte wieder hinauf in den Garten. Der Mond stand sehr hoch am Himmel; ich spazierte den Kiesweg hinauf bis zum allerhöchsten Punkt, und dort blieb ich stehen und schaute auf den schmalen weißen Sandstrand und die sanfte, lautlose See hinunter.
    Schließlich setzte ich mich; ich lehnte mich an den Stamm eines großen, dunklen Baumes, der seine Äste wie einen luftigen Baldachin über mir breitete. Ich legte den Arm auf die Knie und ließ den Kopf auf den Arm sinken.
    Eine Stunde verging.
    Ich hörte ihn kommen; schnell und leichtfüßig bewegte er sich den Kiesweg herauf, mit einem Schritt, wie ihn kein Sterblicher je getan hatte. Als ich aufblickte, sah ich, daß er gewaschen und angezogen war, und sogar das Haar hatte er sich gekämmt. Der Geruch des Blutes, das er getrunken hatte, umwehte ihn noch; vielleicht kam es von seinen Lippen. Er war kein kraftloses, fleischliches Wesen wie Louis, o nein, er war viel stärker. Und der Prozeß war noch nicht beendet. Die Schmerzen des Todes waren vorüber, aber er härtete noch aus, während ich ihn jetzt anschaute, und der mattgoldene Schimmer seiner Haut bot einen bezaubernden Anblick.
    »Warum hast du es getan?« fragte er herausfordernd. Sein Gesicht war eine Maske, und gleich darauf blitzte es zornig auf, als er seine Frage wiederholte. »Warum hast du es getan?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Ach, komm mir nicht so. Und komm mir nicht mit diesen Tränen! Warum hast du es getan!«
    »Ich sage die Wahrheit. Ich weiß es nicht. Ich könnte dir unzählige Gründe nennen, aber ich weiß es nicht. Ich habe es getan, weil ich es tun wollte, weil ich es wollte. Weil ich sehen wollte, was passieren würde, wenn ich es täte; ich wollte es… und ich konnte es nicht. Ich wußte es, als ich wieder nach New Orleans kam. Ich… wartete und wartete, aber ich konnte es nicht tun. Und jetzt ist es getan.«
    »Du mieser, verlogener Bastard. Aus Grausamkeit und Gemeinheit hast du es getan! Du hast es getan, weil dein kleines Experiment mit dem Körperdieb schiefgegangen ist! Was dabei herauskam, war dieses Wunder für mich, diese Jugend, diese Wiedergeburt, und es hat dich wütend gemacht, daß so etwas passieren konnte: daß ich den Nutzen davon hatte, während du so leiden mußtest!«
    »Vielleicht ist das wahr.«
    »Es ist wahr. Gib es zu. Gib zu, wie kleinkariert es war. Gib zu, wie mies es war, daß du es nicht ertragen konntest, wie ich dir mit diesem Körper, den du nicht zu ertragen wagtest, in die Zukunft entglitt!«
    »Vielleicht.«
    Er kam dicht heran und versuchte, mich mit festem, unerbittlichem Griff hochzuziehen. Natürlich rührte ich mich nicht. Er konnte mich keinen Zollbreit bewegen.
    »Du bist immer noch nicht stark genug für diese Spielchen«, sagte ich. »Wenn du nicht aufhörst, schlage ich dich zu Boden. Das wird dir nicht gefallen. Dafür bist du zu würdevoll. Also hör auf mit diesem billigen sterblichen Gerangel.«
    Er wandte mir den Rücken zu, verschränkte die Arme und senkte den Kopf. Ich hörte die kleinen, verzweifelten Laute, die von ihm
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