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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
Autoren: Anne Rice
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hatte, nicht einmal die Vorstellung kam auch nur einen Augenblick lang in Betracht. Warum nicht? Weil er mein Bruder war. Heilig mochte er sein, ohne Zweifel, aber kein Franz von Assisi. Mein Bruder nicht. Kein Bruder von mir konnte so etwas sein. Und das ist Selbstsucht, verstehst du?«
    Der Junge dachte nach, ehe er antwortete, und dann nickte er und sagte, ja, er glaube, er könne das verstehen.
    »Vielleicht hat er wirklich die Visionen gehabt«, sagte der Vampir.
    »Dann können Sie… dann können Sie auch jetzt nicht sagen, ob er welche hatte oder nicht?«
    »Nein, aber ich weiß, daß er nie einen Augenblick in seiner Überzeugung schwankte. Das weiß ich jetzt und wußte es an jenem Abend, als er aufgebracht und tief bekümmert mein Zimmer verließ. Er hat nie einen Augenblick geschwankt. Und wenige Minuten später war er tot.«
    »Wie kam das?« fragte der Junge.
    »Er ging durch die Glastür auf die Terrasse hinaus und blieb kurz vor der Steintreppe stehen. Und dann stürzte er. Er war tot, als ich ihn erreichte. Sein Genick war gebrochen.« Der Vampir schüttelte bekümmert den Kopf, doch sein Gesicht blieb gelassen.
    »Haben Sie ihn fallen sehen?« fragte der Junge. »Hat er den Halt verloren?«
    »Nein, aber zwei Diener haben es gesehen. Sie sagten, er habe nach oben geschaut, als erblicke er etwas am Himmel. Dann habe sich sein Körper vorwärts bewegt, wie von einem Windhauch getrieben. Er habe etwas sagen wollen, als er stürzte. Und auch ich glaubte, er wollte etwas sagen; doch stand ich gerade mit dem Rücken zum Fenster, als es geschah.« Er warf einen schnellen Blick auf das Tonbandgerät. »Ich konnte mir nicht verzeihen; ich fühlte mich schuldig an seinem Tod«, sagte er. »Und alle anderen dachten es auch.«
    »Aber wie konnten sie? Sagten Sie nicht, die Diener hätten ihn fallen sehen?«
    »Es war keine direkte Anklage. Die anderen wußten nur, daß etwas Unangenehmes zwischen uns vorgefallen war, daß wir wenige Minuten vor dem Sturz miteinander gestritten hatten. Die Dienstboten hatten uns gehört, meine Mutter hatte uns gehört. Und meine Mutter fragte mich unaufhörlich, was zwischen uns vorgefallen sei und wieso mein sonst so ruhiger Bruder die Beherrschung verloren habe. Meine Schwester stimmte mit ein, aber ich weigerte mich, etwas zu sagen. Ich war so erschüttert und unglücklich, daß ich niemanden ertragen konnte; ich war nur irgendwie entschlossen, sie nichts von seinen ›Visionen‹ erfahren zu lassen. Sie sollten nicht wissen, daß er letztlich kein Heiliger, sondern nur ein … Fanatiker gewesen war. Meine Schwester zog es vor, zu Bett zu gehen statt zur Beerdigung, und meine Mutter erzählte in der ganzen Kirchengemeinde herum, daß sich in meinem Zimmer etwas Schreckliches zugetragen habe und ich nichts verraten wolle. Sogar von der Polizei wurde ich vernommen, auf Anweisung meiner eigenen Mutter. Schließlich kam der Priester zu mir und wollte wissen, was geschehen sei. Aber ich schwieg. ›Es war nur eine Auseinandersetzung^ sagte ich, ›und ich bin nicht auf der Terrasse gewesen, als er stürzte‹, beteuerte ich. Alle sahen mich an, als hätte ich meinen Bruder umgebracht. Und mir war ganz so, als hätte ich es getan. Zwei Tage lang saß ich neben seinem Sarg und dachte, ich habe ihn getötet. Ich starrte in sein Gesicht, bis es vor meinen Augen verschwamm und ich fast das Bewußtsein verlor. Seine Schädeldecke war auf dem Steinboden zerschmettert, und der Kopf auf dem Kissen war seltsam verformt. Ich zwang mich, ihn genau anzublicken, weil ich die Qual und den Geruch der Verwesung kaum ertragen konnte, und war immer wieder versucht, seine Augen zu öffnen. All dies waren wahnwitzige Gedanken, wahnwitzige Anwandlungen. Vor allem mußte ich daran denken: Ich hatte ihn ausgelacht, ich hatte ihm nicht geglaubt, ich war unfreundlich zu ihm gewesen. Ich war schuld daran, daß er gestürzt war.«
    »Das ist wirklich geschehen, nicht wahr?« flüsterte der Junge. »Sie erzählen mir doch… die Wahrheit?«
    »Ja«, erwiderte der Vampir und blickte ihn ruhig an. »Ich möchte weitererzählen.« Seine Augen gingen hinüber zum Fenster, und er zeigte nur wenig Interesse an dem Jungen, der einen inneren Kampf auszufechten schien.
    »Aber Sie sagten, daß Sie sich über die Visionen nicht im klaren waren,
    daß Sie … ein Vampir… nicht genau wußten, ob…«
    »Ich möchte alles der Reihe nach erzählen«, sagte der Vampir, »so wie es sich zugetragen hat. Nein, ich war mir
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