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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
Autoren: Anne Rice
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wolle er die Bedeutung seines Gesichtsausdrucks ergründen. Dann sagte er: »Ich meinte, ich habe mich in mir selbst geirrt - daß ich ihm nichts abschlagen könnte.« Seine Augen schweiften über die gegenüberliegende Wand und blieben an den Fensterscheiben haften.
    »Er hatte auf einmal Visionen.«
    »Richtige Visionen?« fragte der Junge, doch erneut zögerlich, so als ginge er einem anderen Gedanken nach.
    »Ich hielt es zuerst nicht dafür«, antwortete der Vampir. »Es fing an, als er fünfzehn war. Damals war er sehr hübsch. Er hatte eine Haut wie Seide und ganz große blaue Augen. Er war kräftig, nicht so dünn, wie ich heute bin und damals schon war… doch seine Augen… wenn ich in seine Augen schaute, war es, als stünde ich allein am Rande der Welt… an einer winddurchwehten Meeresküste. Und nichts als das sanfte Brausen der Wellen. Ja«, fuhr er fort, die Augen noch immer auf die Fensterscheiben gerichtet, »er hatte Visionen. Zuerst deutete er es nur an, und dann erschien er eines Tages nicht mehr zu den Mahlzeiten. Er lebte ganz in seiner Kapelle. Zu jeder Tages- und Nachtstunde konnte ich ihn dort finden, wo er auf den nackten Fliesen vor dem Altar kniete. Die Kapelle selber wurde vernachlässigt; er kümmerte sich nicht mehr um die Kerzen, wechselte die Altartücher nicht und entfernte auch die welken Blätter nicht mehr. Einmal bekam ich es mit der Angst zu tun; als ich in dem Laubengang stand und ihn eine volle Stunde beobachtete, während der er sich nicht von den Knien erhob und nicht einmal die Arme senkte, die er wie ans Kreuz genagelt ausgestreckt hielt. Die Sklaven hielten ihn alle für verrückt.« Der Vampir legte befremdet die Stirn in Falten. »Doch ich war überzeugt, daß er nur - übereifrig war; vielleicht zu weit gegangen in seiner Liebe zu Gott. Dann sprach er mit mir über seine Visionen. Der heilige Dominik und die Jungfrau Maria seien zu ihm in die Kapelle gekommen, sie hätten ihn geheißen, unseren ganzen Besitz in Louisiana zu verkaufen, alles, was uns gehörte, und das Geld dazu zu verwenden, Gottes Werk in Frankreich zu tun. Mein Bruder sollte ein großer religiöser Führer werden, er sollte gegen den Atheismus und die Revolution kämpfen und das Land zu seinem früheren Glauben zurückführen. Natürlich besaß er kein eigenes Geld; daher sollte ich die Plantagen und unsere Stadthäuser in New Orleans verkaufen und ihm das Geld geben.«
    Der Vampir schwieg. Und der Junge saß regungslos da und betrachtete ihn erstaunt. »Ach… entschuldigen Sie«, flüsterte er. »Was sagten Sie? Haben Sie die Plantagen verkauft?«
    »Nein«, sagte der Vampir. Sein Gesicht war ruhig wie zu Anfang. »Ich habe ihn ausgelacht. Und er… er wurde zornig. Er beteuerte, sein Auftrag käme von der Heiligen Jungfrau selbst. Und wer sei ich, daß ich einen solchen Auftrag mißachten könne? Wer war ich in der Tat?« fragte er leise, als ob er sich dessen wieder besänne. »Wer in der Tat? Und je mehr er mich zu überzeugen versuchte, desto mehr lachte ich. Es sei Unsinn, sagte ich zu ihm, die Ausgeburt eines unreifen und kranken Gemütes. Die Kapelle sei ein Fehler gewesen, sagte ich, ich wolle sie sofort niederreißen lassen. Er werde in New Orleans zur Schule gehen und sich solche sinnlosen Phantastereien aus dem Kopf schlagen. Ich erinnere mich nicht mehr an alles, was ich sagte, aber ich weiß noch, was ich fühlte. Hinter all meiner Verachtung und Ablehnung schwelten Erbitterung und Enttäuschung. Ich war bitter enttäuscht, und ich glaubte ihm kein bißchen.«
    »Das ist doch verständlich«, sagte der Junge schnell, als der Vampir innehielt, und seine erstaunte Miene entspannte sich. »Ich meine - wer hätte ihm geglaubt?»
    »Ist es so verständlich?« Der Vampir sah den Jungen an. »Vielleicht war es nur abscheuliche Selbstsucht. Ich will es dir erklären. Wie ich dir sagte, liebte ich meinen Bruder, und manchmal hielt ich ihn wirklich für einen Heiligen, einen lebenden Heiligen. Und wie ich dir sagte, habe ich ihn in seinen Gebeten und Meditationen bestärkt und war bereit, ihn Priester werden zu lassen. Und wenn mir jemand von einem Heiligen in Aries oder Lourdes erzählt hätte, der Visionen erblickte, so hätte ich es geglaubt. Ich war Katholik, ich glaubte an Heilige. Ich zündete Kerzen vor ihren Marmorstatuen in den Kirchen an, ich kannte ihre Namen, ihre Bilder, ihre Attribute. Doch ich konnte meinem Bruder nicht glauben. Nicht nur, daß ich nicht glaubte, daß er Visionen
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