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Charlston Girl

Charlston Girl

Titel: Charlston Girl
Autoren: authors_sort
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alt.«
    »Ahaah.« Hastig nickt er. »Natürlich.«
    »Wie dem auch sei. Ich möchte etwas in den... Sarg legen. Ist das okay? Ist es da auch sicher?«
    »Ahaah. Absolut. Das kann ich Ihnen versprechen.«
    »Und es ist privat«, sage ich scharf. »Ich möchte nicht, dass irgendwer nach mir hier reingeht. Sollte jemand kommen, rufen Sie mich an, okay?«
    »Ahaah.« Respektvoll betrachtet er seine Schuhe. »Natürlich.«
    »Gut. Danke. Dann... gehe ich jetzt rein.«
    Ich trete ein und schließe die Tür hinter mir. Tatsächlich habe ich nun doch etwas weiche Knie bekommen. Ich schlucke ein paar Mal, versuche, mich zusammenzureißen. Ich gebe mir alle Mühe, nicht auszuflippen. Nach einer Minute etwa zwinge ich mich, einen Schritt auf den hölzernen Sarg zuzugehen. Dann noch einen.
    Das ist Sadie. Die echte Sadie. Meine hundertfünf Jahre alte Großtante Sadie. Die gelebt hat und gestorben ist und die ich nie kannte. Ich atme schwer. Als ich mich vorbeuge, sehe ich nur ein Büschel sprödes, weißes Haar und trockene, alte Haut.
    »Da bist du ja, Sadie«, murmle ich. Sanft und vorsichtig lege ich ihr die Kette um den Hals. Ich habe es geschafft.
    Endlich. Ich habe es geschafft.
    Sie sieht so winzig klein und eingefallen aus. So verletzlich. Ich denke daran, wie oft ich Sadie berühren wollte. Wie oft ich ihre Hand nehmen oder sie umarmen wollte... und da ist sie nun. In Fleisch und Blut. Zärtlich streiche ich über ihr Haar, zupfe das Kleid zurecht und wünsche mir mehr als alles andere, dass sie meine Berührung spüren könnte. Dieser zerbrechliche Körper war hundertfünf Jahre lang Sadies Zuhause. Das war ihr wahres Ich.
    Während ich dort stehe, versuche ich, ruhig zu atmen. Ich bemühe mich um friedliche, angemessene Gedanken. Vielleicht sollte ich sogar ein paar Worte laut sagen. Ich möchte es richtig machen. Doch gleichzeitig spüre ich einen ungeheuren Drang in mir, der immer stärker wird, je länger ich dort stehe. Ehrlich gesagt, bin ich nicht mit ganzem Herzen hier in diesem Raum.
    Ich muss hier raus. Sofort.
    Mit zitternden Knien komme ich zur Tür, reiße an der Klinke und stürze hinaus, vorbei am staunenden Beerdigungsunternehmer, der im Korridor herumsteht.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragt er.
    »Prima«, presse ich hervor, während ich schon auf dem Weg nach draußen bin. »Alles prima. Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet. Ich melde mich. Aber jetzt muss ich gehen. Tut mir leid, es ist sehr wichtig...«
    Mir schnürt sich die Brust zusammen, dass ich kaum atmen kann. Durch meinen Kopf jagen Gedanken, die ich nicht haben möchte. Ich muss hier raus. Irgendwie schaffe ich es den pastellfarbenen Korridor entlang und renne durch das Foyer. Ich komme zum Eingang und platze auf die Straße hinaus. Und bleibe wie angewurzelt stehen, mit der Tür in der Hand, leise keuchend, und starre zur anderen Straßenseite.
    Die Bank ist leer.
    Da weiß ich es.
    Natürlich weiß ich es.
    Aber trotzdem tragen mich meine Beine im Laufschritt über die Straße. Verzweifelt sehe ich mich um. Ich rufe: »Sadie? SADIE?«, bis ich heiser bin. Ich wische mir die Tränen aus den Augen und winke ab, als freundliche Fremde sich nach mir erkundigen, und suche die ganze Straße ab, und ich gebe nicht auf, und schließlich sitze ich auf der Bank, für alle Fälle, halte mich mit beiden Händen fest. Und warte.
    Und als schließlich der Abend dämmert und mir langsam kalt wird... bin ich sicher. Im Grunde meines Herzens, da wo es zählt. ..
    Sie kommt nicht zurück. Von nun an tanzt sie in einer anderen Welt.

27
    »Ladys und Gentlemen.« Meine Stimme dröhnt so laut, dass ich stutze und mich räuspere. Ich habe noch nie in eine so große Anlage gesprochen, und obwohl ich vorhin beim Soundcheck »Hallo, Wembley, Test, Test, Test!« gesagt habe, erschrecke ich doch.
    »Ladys und Gentlemen«, versuche ich es noch einmal. »Ich danke Ihnen, dass Sie heute zu diesem feierlichen Abschied gekommen sind, zum Gedenken, zur Würdigung...« Ich betrachte die dicht gedrängten Reihen. Gesichter blicken erwartungsvoll zu mir auf. In der St. Botolph‘s Church gibt es keinen einzigen freien Platz mehr. »... und vor allem zur Wertschätzung einer außergewöhnlichen Frau, die uns alle berührt hat.«
    Ich wende mich der gigantischen Reproduktion von Sadies Gemälde zu, die das Kirchenschiff beherrscht. Umrahmt ist sie von den schönsten Blumengebinden, die ich je gesehen habe, mit Lilien und Orchideen und rankendem Efeu und sogar einer
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