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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr
Autoren: Anne Chaplet
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einer vielleicht schon früher erzählt: einen Fahrradfahrer.«
    Alle blickten auf Paul.
    »Aber wieso sollte ich …?« Paul wollte sich schon verteidigen.
    »Frau Burau zur Witwe machen? Warum nicht«, antwortete Kosinski seelenvoll und grinste Anne an.
    »Schöne Idee, aber …«
    Paul brach ab. Mitten im Satz. Als Kosinski seinem Blick folgte, sah er eine große Frau in der Tür stehen, eine ziemlich große Frau, rote Haare, breite Schultern. Sie war blaß im Gesicht. Auffallend blaß. Und umklammerte mit weißen Händen den Schulterriemen einer großen, viereckigen Tasche.
    Was ist los mit ihr? hatte Paul erschrocken gedacht, als er Karen in der Tür stehen sah. Sie kam ihm plötzlich viel kleiner vor als sonst. Versteinert. Eingesunken. Als ob ihr jemand das Licht ausgeknipst hätte, das innere Licht, das sie sonst so strahlen ließ. Paul wäre am liebsten aufgesprungen und hätte sie in den Arm genommen. Aber ihr starres Gesicht erlaubte noch nicht einmal den Gedanken daran.
    Karen nickte hinüber zum runden Tisch und hielt nur Kosinski die Hand hin. »Inspektor Kosinski? Ich bin Karen Stark.« Kosinski nickte und drückte ihr die Hand. Eiskalt, registrierte er.
    »Ich habe Informationen, von denen ich Sie in Kenntnis setzen muß.« Karen sah Anne an, ruhig und abschätzend. Dann Rena. Dann Paul. »Sie alle.«
    Karen legte Kassette und Briefumschlag auf die lange hölzerne Theke. Sie setzte sich nicht. Sie sah Kosinski an, der immer noch bei der Tür stand – als ob sie ihn um etwas bitten möchte, dachte Paul flüchtig und befremdet. Als ob sie sich entschuldigt. Was ist los mit ihr?
    Karen gab sich einen Ruck und sah in die Runde. Dann sagte sie mit fester Stimme: »Leo Matern hat seinen Mörder in Frankfurt getroffen.«
    Bremer spürte überrascht, daß ihn diese Mitteilung beruhigte. Hatte er noch immer Anne in Verdacht gehabt? Oder hoffte er nur, daß nach dem Pferdeschlitzer und dem Brandstifter mal andere dran waren – Fremde, vorzugsweise Frankfurter? Du bist so bigott wie Marianne, dachte er selbstkritisch. Aber er war erleichtert. Eindeutig.
    »Ich – hatte lange nicht mehr an ihn gedacht«, hatte die Stimme auf dem Band gesagt. »Und ich hatte ihn zehn Jahren lang nicht mehr gesehen. Aber ich habe ihn sofort wiedererkannt. Einen wie ihn vergißt man nie.«
    »Meine Quelle«, sagte Karen, als ob sie sich mit ihrer Sprache Distanz schaffen wollte zu ihren Gefühlen, »meine Quelle ist Leo Matern zum erstenmal am Dienstag, dem 3. September, begegnet. Im Frankfurter Bahnhofsviertel. Im Hof hinter einem Sportstudio.«
    Dem präzisen Protokoll zufolge hatte ihre »Quelle« auf einer Maschine trainiert, die auch Karen kannte. Von dieser Position aus hatte man einen guten Blick durchs Fenster – auf den Himmel. Und auf den Hinterhof. Das Fenster, das mit einem Gitter aus Eisenpfeilen gegen Einbruch geschützt war, lag halb in einen Lichtschacht versenkt und öffnete sich mit der anderen Hälfte zur ebenen Erde. Durch diese obere Hälfte sah man auf einen Parkplatz und auf die Rückseite eines alten, zerbröselnden Fabrikgebäudes. Auf einen Baum, der wundersamerweise im Asphalt und Hinterhofschatten überlebt hatte. Und auf die Wachmänner, die sich hier einfanden, wenn ihnen nach einer Zigarette war. Meistens saßen sie auf dem Mäuerchen, das den Lichtschacht begrenzte. Manchmal standen sie auch davor, stellten den Fuß auf das Sims, rauchten, schwätzten und blickten mäßig interessiert hinab auf die Ansammlung mittelalterlicher Fitneßjünger, die sich im Souterrain dem unaufhaltsamen Verfall entgegenstemmten. Karen hatte sie oft dort oben stehen sehen. Und ihnen, bei geöffnetem Fenster, zugehört.
    Am Dienstag, den 3. September, etwa um 9 Uhr 10, hatten zwei Wachmänner vor dem Fenster gestanden und je einen Fuß in schwarzen Halbstiefeln auf das Sims gestellt. »Ich habe mich aufs Training konzentriert und nicht gleich bemerkt, daß ein dritter Fuß hinzugekommen war. Ein brauner Budapester Schuh. Sein Besitzer trug dazu dunkelrote Socken und eine gepflegte Hose aus offenbar gutem Material, darüber ein Tweedjackett. Die rechte Hand hatte er mit dem Daumen in der Tasche seiner Hose verankert, in der linken hielt er eine Zigarette. Ich habe das Gesicht nur im Profil sehen können. Aber ich war mir sicher«, vermerkte das Protokoll buchhalterisch.
    »Er hat von Anfang an mitgeschrieben«, dachte Karen. »Er muß es von Anfang an geplant haben. Mitsamt seiner Rechtfertigung.«
    »Leo Matern«,
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