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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le
Autoren: Smileys Leute oder Agent in eigener Sache (Smiley Bd 7)
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jemand sie für dieses Treffen angezogen.
    »Ist Anton tot?« fragte sie, und
Smiley bemerkte, daß zwischen dem Ausdruck auf ihrem Gesicht und den Gedanken
in ihrem Kopf keine Verbindung bestand.
    »Nein, Anton hat eine böse Grippe«,
antwortete er.
    »Anton sagt, er sei mein Onkel,
aber das stimmt nicht«, erklärte sie. Ihr Deutsch war gut, und er fragte sich,
ob sie es wirklich, wie Karla zu Grigoriew gesagt hatte, von ihrer Mutter mitbekommen
oder ob sie die Sprachbegabung ihres Vaters geerbt habe, oder beides. »Er
behauptet auch, keinen Wagen zu haben.« Wie einst ihr Vater, sah sie ihn
unbewegt und unbeteiligt an. »Wo ist Ihre Liste?« fragte sie. »Anton bringt
immer eine Liste mit.«
    »Oh, ich habe meine Fragen im
Kopf.«
    »Es ist verboten, Fragen zu
stellen, ohne eine Liste zu haben. Fragen aus dem Kopf sind von meinem Vater
ganz und gar verboten.«
    »Wer ist Ihr Vater?« fragte Smiley.
    Eine Zeitlang sah er wieder nur
ihre Augen, die ihn wie die einer Blinden aus ihrer unzugänglichen Einsamkeit
anstarrten. Sie hatte eine Rolle Scotchtape vom Schreibtisch der Mutter
Felicitas aufgenommen und strich mit den Fingern leicht über die glänzende
Oberfläche.
    »Ich habe Ihren Wagen gesehen«,
sagte sie. »BE bedeutet Bern.«
    »Stimmt«, sagte Smiley.
    »Was für einen Wagen hat Anton?«
    »Einen Mercedes. Einen schwarzen.
Sehr groß.«
    »Wieviel hat er dafür bezahlt?«
    »Er hat ihn gebraucht gekauft. An
die fünftausend Franken würde ich sagen.«
    »Warum kommt er dann immer per
Fahrrad zu mir?«
    »Vielleicht braucht er ein bißchen
körperliche Bewegung.«
    »Nein«, sagte sie. »Er hat ein
Geheimnis.«
    »Haben Sie ein Geheimnis,
Alexandra?« fragte Smiley.
    Sie hörte seine Frage, lächelte
darüber und nickte ihm mehrmals zu, als sei er weit von ihr entfernt. »Mein
Geheimnis heißt Tatjana.«
    »Ein guter Name«, sagte Smiley.
»Wie sind Sie dazu gekommen?«
    Sie hob den Kopf und lächelte
strahlend die Ikone an der Wand an. »Es ist verboten, darüber zu sprechen. Wenn
man darüber spricht, glaubt einem niemand, und man wird in eine Klinik gebracht.«
    »Aber Sie sind ja bereits in einer
Klinik«, bemerkte Smiley.
    Sie sprach nicht lauter, nur
schneller. Dabei war sie so völlig reglos, daß sie nicht einmal zwischen den
Wörtern Atem zu holen schien. Ihre Klarsichtigkeit und ihre Höflichkeit hatten
etwas Unheimliches. Sie respektiere seine Freundlichkeit, sagte sie, aber sie
wisse, daß er ein äußerst gefährlicher Mann sei, gefährlicher als Lehrer oder
Polizisten. Herr Doktor Rüedi habe das Eigentum und die Gefängnisse erfunden
und viele der geschickten Argumente, die es der Welt erlaubten, ihre Lügen
völlig auszuleben, sagte sie. Mutter Felicitas sei zu nahe an Gott, sie
begreife nicht, daß Gott jemand war, dem man die Peitsche und die Sporen geben
müsse wie einem Pferd, damit er einen in die richtige Richtung trüge:
    »Aber Sie, Herr Lachmann,
repräsentieren die Vergebung der Obrigkeit. Ja, das wird wohl leider so sein.«
    Sie seufzte und bedachte ihn mit
einem müden, nachsichtigen Lächeln, doch als er auf den Tisch sah, bemerkte er,
daß sie ihren Daumen gepackt hatte und ihn zurückbog, bis er fast zu brechen
schien.
    »Vielleicht sind Sie mein
Vater, Herr Lachmann«, meinte sie lächelnd.
    »Nein, leider, ich habe keine
Kinder«, antwortete Smiley.
    »Sind Sie Gott?«
    »Nein, ich bin nur ein ganz
gewöhnlicher Mensch.«
    »Mutter Felicitas sagt, in jedem
gewöhnlichen Menschen steckt ein Teil, der Gott ist.«
    Diesmal ließ Smiley mit der Antwort
lange auf sich warten. Er machte den Mund auf und schloß ihn dann wieder mit
einem ganz uncharakteristischen Zögern.
    »Das hab' ich auch sagen hören«,
antwortete er und sah dabei einen Augenblick von ihr weg.
    »Sie müssen mich fragen, ob ich
mich besser fühle.«
    »Fühlen Sie sich besser, Alexandra?
    »Ich heiße Tatjana«, sagte sie.
    »Wie fühlt sich dann Tatjana?«
    Sie lachte. Ihre Augen glänzten
unnatürlich. »Tatjana ist die Tochter eines Mannes, der so wichtig ist, daß es
ihn gar nicht gibt«, sagte sie. »Er herrscht über ganz Rußland, aber es gibt
ihn nicht. Wenn irgendwelche Leute sie verhaften, dann sorgt ihr Vater dafür,
daß sie wieder frei kommt. Es gibt ihn nicht, aber jeder fürchtet ihn. Tatjana
gibt es auch nicht«, fügte sie hinzu.
    »Es gibt nur Alexandra.«
    »Und wie steht es mit Tatjanas
Mutter?«
    »Sie ist bestraft worden«, sagte
Alexandra ruhig, wobei sie diese Information mehr den
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