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Camorrista

Titel: Camorrista
Autoren: Giampaolo Simi
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alter Transithafen für Spione im Kalten Krieg. Heller Parkettboden, Kochfeld mit elektrischen Platten, Ledercouch, Kokosteppich.
    Der Hauptkommissar spricht langsam und schwitzt in seinem langärmligen, zugeknöpften Hemd. In den Tagen des Abgrunds dehnt sich ein weißer, drückender Himmel über der ganzen Stadt aus.
    Der Hauptkommissar erzählt mir, dass seine Kollegen den schwarzen Sack schon geöffnet hatten, als er im Präsidium ankam. Dass er auch ins Leichenschauhaus gegangen ist, um sich anzusehen, was er »eine Art Wiederzusammenfügen« mit dem anderen Teil des Körpers, der vor dem Haus Nr. 182 im Corso Due Sicilie gelassen wurde, nennt.
    Ich dachte, die Zeitung hätte mit Einzelheiten nicht gegeizt, doch er erzählt mir lang und breit unveröffentlichte und grauenhafte Details. Vorsätzlich und gewissenhaft. Die Leiche wies Abschürfungen an den Hand- und Fußgelenken auf, ausgekugelte Schultern und ausgerissene Oberschenkel. Nach der Untersuchung der Überreste ist man so gut wie sicher, dass er noch nicht tot war, als sich diese Blutergüsse gebildet haben, und dass Cocíss also bei lebendigem Leib gevierteilt worden ist. Sie haben ihn mit den Handgelenken
an ein Auto gebunden, mit den Fußgelenken an ein anderes. Höchstwahrscheinlich haben sie Traktoren benutzt. Eine so aufwendige Exekution kann nicht von irgendeinem Statthalter beschlossen worden sein. Sie müssen dem jungen Capozona auch ein paar Sehnen durchgeschnitten haben, vielleicht hatten sie dafür geeignete Sägen (D’Intrò sagt das wirklich so: »geeignete Sägen«), denn manchmal schaffen es nicht mal Explosionsmotoren, sie zu zerreißen. Das war eine exemplarische Bestrafung, ein Befehl von oben, und ich muss das verstehen, denn auch ein Massaker, das düsterer ist als der schwärzeste Abgrund, ist eine Form der Kommunikation. D’Intrò liest von Berufs wegen darin, mit der Geduld eines Bergmanns, der durch die Eingeweide der Erde kriecht.
    »Ihnen ist sicher auch klar, dass auch Sie, ebenso wie wir, diese gewisse Sache gesehen haben?«, fragt er schließlich.
    »Was?«
    Er sieht mich ungeduldig an.
    »Ihren Namen, R-O-S-A. Mastronero trug ihn in die Haut eingeschnitten, hier vorne. Selbst so, wie man ihn zugerichtet hat, konnte man es noch gut lesen. Sie wollen mir doch nicht sagen, dass Sie nichts davon wissen.«
    »Und Sie wollen mir doch nicht sagen, dass man ihn deshalb umgebracht hat.«
    »Nein. Er war schon verurteilt. Aber ich glaube, dass diese Schnitte auch Sie verurteilt haben. Abgesehen von der Tatsache, dass Sie meinten, Mastronero folgen zu müssen, statt zuzulassen, dass er von ganz allein als Fraß von Bestien seinesgleichen endet.«
    Ich setze mich, aber nicht aufs Bett. Ich nehme den Schreibtischstuhl und stelle meine Tasche auf den Boden (was habe ich noch zu verlieren, was?).
    »Aber da ich zusammen mit Raffaela im Auto war, Dottor D’Intrò, konnten sie mich nicht gleich umbringen. Sie konnten es nicht riskieren, die Tochter des Hauptkommissars zu töten. Es genügte, sie von dem großen Ereignis verjagt zu haben, es genügte, sie in Tränen aufgelöst nach Hause zu schicken,
um Ihnen mitzuteilen, dass man ihnen nicht mit Polizistinnen auf den Sack gehen sollte, nie mehr. Ist das die Wahrheit?«
    »Die Wahrheit ist, dass Sie keine Dienstanweisungen befolgen. Und Sie befolgen nicht einmal Ratschläge. Die Wahrheit ist, dass die Incantalupo Sie jetzt tot sehen wollen, und das sind Leute, die es sich nicht so schnell anders überlegen, das kann ich Ihnen garantieren.«
    »Ich glaube Ihnen, Dottor D’Intrò, ich glaube Ihnen. Und außerdem scheint mir, dass Sie sie wirklich gut kennen. Können Sie die deshalb nicht am Arsch kriegen, wie Ihre Tochter es gern hätte?«
    »Lassen Sie meine Tochter in Frieden.«
    »In Ordnung. Dann sagen Sie mir … Stehen die Incantalupo hinter respektablen Leuten wie Ferrera, Stevens … der McDougall? Hinter der WCA, den Pizzerias Mamma Maria und der Kollektion Via Roma … Ist dies das Reich des Eises, wie Sie es nennen?«
    »Und? Was glauben Sie entdeckt zu haben, sagen Sie es mir?«
    »Nur die Spitze des Eisbergs«, antworte ich.
    Er packt mich an den Ellbogen und spricht mit leiser Stimme zu mir, tut so, als würde er lächeln.
    »Gut. Dann sagen Sie mir jetzt, was passiert, wenn eines Tages das ganze Eis an den Polen schmilzt.«
    »Wollen Sie mir noch eine kleine Lektion erteilen?«
    »Nein, ich will nur, dass Sie mir antworten.« Er kommt mit dem Gesicht langsam näher an
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