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Callgirl

Callgirl

Titel: Callgirl
Autoren: J Angell
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eine Mitgliedschaft auf Lebenszeit besaß (paradoxerweise ein Geschenk meiner Mutter), so dass ich immer in der Lage sein würde, dort hinzugehen. Mir fiel ein, wie ich im Whirlpool gesessen und gedacht hatte: Ein Glück, dass das Center auch spät in der Nacht geöffnet hat. Wenn ich mit dieser Arbeit anfange, komme ich anschließend immer hierher und lasse alle schlechten Gefühle von diesen Wasserblasen aufsaugen. Ich werde diesen Ort nutzen, um alles Schmutzige von mir abzuspülen und mich wieder gereinigt zu fühlen.
    Ich lächelte breit, während ich wieder in mein Auto stieg, um nach Hause zu fahren. Es gab nichts, von dem ich mich reinigen müsste. Was für schlechte Gefühle?
    In dieser Nacht schlief ich ausgezeichnet. Keine Albträume, kein schweißgebadetes Erwachen voll innerer Unruhe, kein Knoten im Bauch. Ich war Gewinn bringend beschäftigt. Ich konnte sogar einen Scheck für die Stromgesellschaft ausstellen.
    Es würde funktionieren. Und ich war nicht einmal schockiert darüber, dass ich gar keine schlechten Gefühle hatte.

Kapitel 2
    Der nächste Tag brach an, wie nächste Tage es leider unweigerlich zu tun pflegen. Ich hatte geduscht, als ich nach Hause gekommen war, tat es aber aus Gewohnheit am Morgen noch einmal, bevor ich mich hastig anzog und zu meinem Kurs am College eilte. Ich legte mein übliches Dozentenoutfit an, was (jedenfalls nach meiner Definition) heißt: So professionell, dass man von den Studenten zu unterscheiden ist, aber nicht so formell, dass es so aussieht, als würde man sich für besonders wichtig halten. Colleges gelten in Akademikerkreisen als ziemlich unwichtig. Das ist ein Jammer und außerdem ungerechtfertigt. Aber war es nicht Lenin, der einmal sagte, dass die Wahrnehmung die Realität bestimmt? Viele Menschen beginnen ihre Laufbahn an einem örtlichen College – und beenden sie auch dort.
    Aber darüber wollte ich lieber nicht nachdenken.
    Ich hatte Glück mit meinem Kurs »Über Tod und Sterben«. Er wurde als gemeinschaftliches Projekt vom College und einem örtlichen Krankenhaus angeboten und hauptsächlich von Krankenschwestern und Pflegern besucht, die am College einen akademischen Abschluss in Krankenpflege anstrebten. Von daher waren die Teilnehmer nicht nur sehr motiviert, sondern kannten sich in der Thematik auch sehr gut aus. Während ich nur über den Tod theoretisierte, mussten sie sich jeden Tag ganz praktisch damit auseinander setzen. Sie erteilten mir eine Lektion in Bescheidenheit.
    Ich muss allerdings zugeben, dass ich mich am Morgen nach
meinem ersten Arbeitstag bei Peach alles andere als bescheiden fühlte. Ich fühlte mich phänomenal großartig.
    An jenem Tag sprachen wir über das Thema Tod und Krieg. Ich behandle dieses Thema besonders gern, weil es eine Menge interessantes Material dazu gibt, das man im Unterricht diskutieren kann. Ich wollte den Studenten nichts darüber beibringen, ob Kriege gut oder schlecht sind. Ich wollte vielmehr ihre Wahrnehmungen in Frage stellen und ihnen helfen, ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen. Oder ihre eigene Ratlosigkeit auszuhalten. Beides fand ich akzeptabel.
    Ich las zwei sehr gefühlsbetonte, ausnehmend schöne und zugleich extrem schwierige Gedichte vor – »The Conscientious Objector« von Edna St. Vincent Millay und »Losses« von Randall Jarrell. Ich trug sie wie immer fast auswendig vor und achtete dabei auf Reaktionen, die ich vielleicht für die anschließende Diskussion nutzen konnte. Und dann plötzlich, für den erschreckenden Bruchteil einer Sekunde (mehr war es nicht, ehrlich) saß ich wieder auf dem Boot, nippte an meinem Weinglas, nachdem ich mich angezogen hatte, und bekam ein Bündel Banknoten in die Hand gedrückt.
    Und es gefiel mir. Das Ganze lief ab wie in einem Zeitraffer. Ich trat einen Schritt zurück und aus meinem Körper heraus, betrachtete mich selbst, und ich mochte, was ich sah. Mir gefiel meine berufliche Kompetenz, die Tatsache, dass ich etwas Bedeutungsvolles unterrichtete und dass ich meine Sache gut machte. Und mir gefiel das heimliche Wissen, dass man mich in der Nacht zuvor dafür bezahlt hatte, sexy, schön und begehrenswert zu sein. Ich mochte beide Seiten an mir. Ich mochte sie sogar sehr.
    Ich hatte mich schnell wieder gefangen. Die letzten Zeilen von Jarrells Gedicht hingen noch im Raum. »But the night I died I dreamed that I was dead / And the cities said to me: ›Why are you dying? / We are satisfied, if you are: but why did I die?‹«
    Ich wartete. Das
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