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Cabo De Gata

Cabo De Gata

Titel: Cabo De Gata
Autoren: Eugen Ruge
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und mein Vater – mein stets überlegener, gelassener Vater, der Anekdotenerzähler und Lebemann, der große Redner und bekannte Buchautor – verwandelte sich vor meinen Augen in einen einsamen, alten Mann, der Brotscheiben abzählte. Und anstatt mich über ihn lustig zu machen, über diese unglaubliche Krümelkackerei , wie er selbst es genannt haben würde, murmelte ich irgendetwas Ablenkendes, ja sogar Beschwichtigendes, so verstört war ich darüber, dass mein Vater mir plötzlich leidtat.
    Es muss in der folgenden Nacht gewesen sein, dass ich von der Auferstehung meiner Mutter träumte. Den Traum habe ich damals notiert, wie alle meine Träume, aber ich habe mir – aus einem mir selbst nicht vollkommen verständlichen Grund – vorgenommen, bei dieser Niederschrift keine früheren Aufzeichnungen zu benutzen, nichts, was meine Erinnerung auffrischen oder beflügeln könnte, auch nicht bei Google oder bei Wikipedia nachzuschlagen oder, was leicht wäre, den Ort noch einmal zu besuchen, wo mir schließlich die Katze begegnete. Ich will mich auf jene Schwingungen verlassen, die wir Gedächtnis nennen. Eine dieser Schwingungen liefert ein Bild meiner Mutter.
    Ich sehe sie vom Friedhof kommen, und zwar noch auf dem Friedhof, aber schon auf dem Wege nach Hause; noch befindet sie sich in einer Art Zwischenstadium, noch trägt sie ihr weißes Totenkleid, aber ich spüre (sogar aus der Distanz) die allmählich wiederkehrende Wärme unter ihrer Haut. Sie wirkt ausgeschlafen, ihr rotes Haar ist zerzaust. Sie wischt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, macht nicht viel Aufhebens von der ganzen Geschichte, will zur Tagesordnung übergehen, die Wohnung aufräumen, einkaufen, kochen, aber mein Vater rennt aufgeregt vor ihr hin und her, erklärt, warum das alles nicht möglich sei: Er habe, argumentiert er, sämtliche Formalitäten erledigt, habe sämtliche ärztlichen Bescheinigungen besorgt, sämtliche richterlichen Stempel beisammen, auch sei der Platz auf dem Friedhof bereits für 25 Jahre im Voraus bezahlt, und meine Mutter, findet er, könne jetzt nicht erwarten, dass er das alles rückgängig mache (auch ist ihm, ich spüre es, peinlich, all den Leuten, denen er Traueranzeigen geschickt hat, nun anzuzeigen, dass die Sache ein Irrtum gewesen ist). Kurz, er protestiert aufs schärfste gegen die Auferstehung – und meine Mutter legt sich wieder ins Grab.

5
    An Weihnachten erinnere ich mich nicht mehr, wohl aber an die Silvesternacht.
    Es war meine letzte Nacht in Berlin, und eigentlich hatte ich vorgehabt, zu der Party eines Freundes zu gehen, genauer: eines ehemaligen Freundes, denn seit er sich nach der Wende selbständig gemacht hatte (bis heute ist mir nicht klar, womit eigentlich; das Einzige, was ich von seiner Selbständigkeit mitbekam, war, dass er ständig irgendwelche Präsentationen vorbereitete und deshalb nie Zeit hatte), war der Kontakt zwischen uns nach und nach eingeschlafen. Nun lud er, zusammen mit irgendwelchen anderen Selbständigen, zu einer Großparty in eine Fabriketage, dreihundert Leute, die mir, so viel war klar, fast alle fremd sein würden – genau die Art von Veranstaltung also, die ich für gewöhnlich meide. Dieses Mal jedoch hatte ich mich entschlossen, hinzugehen, unterzutauchen, mir das trügerische Gefühl zu verschaffen, unter Menschen zu sein. Aber dann rief Karolin an und fragte mich, ob ich Sarah sehen wolle. Das Kind habe Sehnsucht nach mir.
    Ich erinnere mich recht gut an das Telefonat. Es war wie immer fragil, vom Abriss bedroht. Karolin bat nicht, sondern fragte , und jedes Zögern hätte zum Zurückziehen der Frage geführt und mich mit unguten Gefühlen zurückgelassen. Darin war Karolin groß: im Heraufbeschwören unguter Gefühle. Sie sprach nie etwas aus, aber wenn ich über die Botschaft nachdenke, die sich dieses Mal hinter der scheuen Attitüde verbarg, war es die: Es ist schließlich nicht deine Tochter, schien sie mir sagen zu wollen, und wenn du nun nichts mehr mit ihr zu tun haben willst, dann ist das dein gutes Recht – und sofort hatte ich mich selbst in Verdacht, ich hätte in dem Kind schon die ganze Zeit nichts anderes gesehen als eine letzte Brücke zu ihr, zu Karolin; ich hätte die Tatsache, dass Karolin sich noch immer nicht entschlossen hatte, ihre Tochter über die Vaterschaftsfrage aufzuklären, vor allem deshalb insgeheim begrüßt, weil ich glaubte, daraus schließen zu können, dass unsere Beziehung vielleicht doch noch eine Chance habe –
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