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Cabo De Gata

Cabo De Gata

Titel: Cabo De Gata
Autoren: Eugen Ruge
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habe, knuspert in ihrem Gehäuse wie ein Haustier, und ich verstehe nicht mehr, warum ich die Wohnung gekündigt habe.
    Beiläufig befragte ich Freunde oder Bekannte nach ihren Auslandserfahrungen. Ich erinnere mich an Empfehlungen wie Südafrika oder Ecuador, auch Ghana kam mehrmals vor oder die mir völlig unbekannten Seychellen. Ich weiß noch, dass ich staunte, wo die Leute so wenige Jahre nach der Wende schon überall gewesen waren. Einen Ort, der im Winter warm, zugleich preiswert und möglichst auf dem Landweg erreichbar war, konnte mir indes kaum einer nennen, wobei ich zugeben muss, dass ich die letzte der drei Bedingungen nur zaghaft ins Spiel brachte, weil ich nicht eingestehen wollte, dass ich, wenn nicht unter Flugangst, so doch unter Flugunbehagen litt. Stattdessen gab ich, mich an irgendeine Max-Frisch’sche Tagebucheintragung erinnernd, vor, ein Gefühl für die Reiseentfernung bewahren zu wollen, oder versuchte zu erklären, dass ich weder auf Abenteuer noch auf touristische Attraktionen aus sei, was natürlich die Frage aufwarf, worauf ich denn eigentlich aus sei – und ich erinnere mich, dass ich diese Frage mehrmals sehr verschieden beantwortet habe, ohne dass eine der Antworten mich selbst überzeugte.
    Schließlich saß ich in der Stadtbibliothek und studierte Klimakarten. Ich erinnere mich an rote und blaue Diagramme, an Zahlen und Messwerte, aber besonders deutlich erinnere ich mich daran, dass ich umso ratloser wurde, je gründlicher ich mich mit der Sache beschäftigte – eine Erfahrung, die mir auf einmal vertraut erschien: Je genauer man hinsah, desto mehr verschwamm alles. Natürlich fiel mir an dieser Stelle die Heisenberg’sche Unschärferelation ein, und mir kam der zugegeben eher philosophische als naturwissenschaftliche Gedanke, dass das, was Heisenberg auf der atomaren Ebene beschrieb (nämlich die prinzipielle Unfassbarkeit des Objekts), eine der Materie immanente Eigenschaft sei, die sich folgerichtig, ja zwangsläufig in der sichtbaren Welt fortsetzen müsse: Es war unmöglich, den richtigen Ort zu finden – diese Erkenntnis gefiel mir, ja sie erheiterte mich sogar, statt mich zu erschrecken. Es war, so erinnere ich mich, als nähme ich meine Lage nicht ernst, als würde ich neben mir stehen und mir zuschauen wie der Figur eines Romans, und wenn ich diesen Moment grundloser Heiterkeit wie auch andere, weniger bedeutende Momente im Gedächtnis bewahrt habe, dann liegt dies vermutlich daran, dass ich damals alles, was ich tat oder was mir zustieß, im selben Moment oder doch im nächsten oder übernächsten auf seine Stofftauglichkeit prüfte; dass ich mein Leben, noch während ich es erlebte, probehalber zu beschreiben begann.

3
    In einer Art Waffenladen kaufte ich ein superscharfes (nicht rostfreies) Opinelmesser und eine kleine Dose rotes Pfefferspray. Außerdem kaufte ich bei Camp 4 ein aufblasbares Nackenkissen (für nächtliche Zugfahrten) und eine fast gewichtslose Hängematte mit minimalem Packmaß.
    Ich dübelte in meinem Zimmer zwei gewaltige Haken ein und hängte die Matte probehalber auf. Ich hatte noch nie eine Hängematte benutzt. Ich erinnere mich, dass mir das Wort embryonal in den Sinn kam, als ich sie ausprobierte: embryonale Passivität. Mutter Erde, die mich sanft in die Arme nahm. Ich lag stundenlang in der Matte; ich las darin, schlief darin, ich benutzte sie als Sessel beim Kaffeetrinken. Ich entwickelte in der Hängematte liegend verschiedene Theorien, die ich nur noch in Umrissen erinnere: über den Zusammenhang von Muße und Lebensgefühl (ich meine das Vermögen, sich als lebendig zu empfinden), über Kolumbus, der die Hängematte bekanntlich nach Europa brachte, über Wachstumsdenken und Christentum. Ich sah mich mit meiner Hängematte in südlichen Phantasielandschaften, und plötzlich erschien mir alles ganz leicht. Solange es zwei Bäume gab, zwischen denen ich meine Matte aufspannen konnte, war ich nicht verloren.
    Ich erinnere mich, dass ich einen Zettel an meine Tür klebte: Schlafsofa zu verschenken . Noch am selben Nachmittag standen zwei Frauen vor der Tür, die ich beide, allerdings aus verschiedenen Zusammenhängen, kannte. Eine von ihnen hatte ich schon mehrmals im Hausflur getroffen. Sie war nicht unansehnlich, schmal, fast zierlich, trug immer etwas zu enge Kleidung, aber obwohl ich – ein Jahr nach der Trennung von Karolin – noch nicht wieder mit einer Frau zusammen gewesen war, obwohl die körperliche Nähe von Frauen mir den
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