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Cabo De Gata

Cabo De Gata

Titel: Cabo De Gata
Autoren: Eugen Ruge
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was uns sonst in die Finger kam, irgendein im Moment erdichtetes Märchen, absurd und voller dramaturgisch nicht zu begründender Wendungen. Ich weiß nicht mehr, worum es in der Geschichte ging (es hatte irgendetwas mit chinesischer Oper zu tun, aber auch mit der Müllabfuhr und einem versehentlich verschrotteten Wesen, das wir Drei-Gramm-Kwautsch nannten), aber ich weiß noch, dass ich in einen regelrechten Flow geriet: Plötzlich, in dieser Stunde, schien all das Pedantische, Zwanghafte von mir abzufallen, all das Verschlossene und Verkopfte, das ich als das Erbe meines Vaters betrachtete und das mich, da war ich ganz sicher, sowohl im Leben als auch beim Schreiben behinderte.
    Um Mitternacht stiegen wir aufs Dach, um uns das Feuerwerk anzusehen, mit dem Berlin das neue Jahr einböllerte. Ich erinnere mich, dass unter den Leuten, die auf dem Dach standen, auch die beiden Lesben waren, die mir von weitem ein (Betonung auf «eu») frohes neues Jahr zuriefen. Ich erinnere mich an die vereinzelten, schweren Flocken, die man in der Dunkelheit über den Dächern nicht sah, sondern erst spürte, wenn sie das Gesicht berührten. Ich erinnere mich an Sarahs feucht glänzende Wangen, an den Ausdruck des Glücks in ihrem Gesicht. Und ich erinnere mich an den Anflug von Zuversicht, der mich überkam, jener fast schon vergessenen, jugendlichen Zuversicht, die mich einmal – wie lange war das her? – wie ein gütiger Engel durchs Leben getragen hatte.
    Am nächsten Tag stieg ich in den Zug nach Barcelona.

6
    Genauer gesagt, stieg ich in den Zug nach Basel, um dort den Nachtzug nach Barcelona zu nehmen. Das, so hatte sich bei der Bahnauskunft herausgestellt, war die einfachste und preiswerteste Verbindung in Richtung Süden, und dorthin wollte ich ja.
    Vor der Abfahrt am Ostbahnhof hatte ich in der Bahnhofsbuchhandlung ein kleines spanisch-deutsches Wörterbuch gekauft und einen herabgesetzten, schon etwas veralteten Reiseführer, weswegen ich beinahe den Zug verpasste. Es war einer von den damals neuen Hochgeschwindigkeitszügen. Er fuhr an, ohne zu rucken, und wenn ich mich heute, erster Klasse fahrend, regelmäßig bei den (völlig schuldlosen) Schaffnern über das bei bestimmten Geschwindigkeiten auftretende Brummen und Jaulen beschwere, muss ich zugeben, dass mir der Zug damals geräuschlos erschien – allerdings erinnere ich mich nur an die langsame Fahrt durch Berlin, das draußen, schon unerreichbar hinter den hermetischen Fenstern, vorbeirollte, und auch wenn ich dort nur die typischen Brachen neben dem Gleisbett sah, die Strommasten, Kleingärten, Bretterbuden, erinnere ich mich, dass sich beim Anblick all dessen meine Kehle verengte.
    Von Basel weiß ich nur noch, dass ich spätabends auf dem Bahnsteig stand und der, wenn ich nicht irre, dreisprachigen Ansage lauschte: einer routinierten weiblichen Stimme, die vom Bahnhofshimmel widerhallte, so fern, so verkratzt wie aus einem historischen Radioempfänger.
    Während ich von der Ansage so gut wie nichts verstand, erinnere ich mich noch genau an die ersten beiden spanischen Wörter, die ich aus dem Mund eines lebendigen Menschen hörte, nämlich aus dem des Nachtzugschaffners, der mir die Funktionsweise des elektrisch verstellbaren Liegesessels erklärte. Bajo – sagte er, als er den Sessel per Knopfdruck nach unten bewegte, und alto , als er ihn wieder nach oben fahren ließ. Ich blies mein Nackenkissen auf und drückte auf bajo.
    Das nächste Bild stammt schon vom Morgen: Der Zug zuckelt mit gedrosseltem Tempo durch unansehnliche Vororte. Schäbige rosa Neubauten, die an Rumänien oder Russland erinnern. Hoffnungsvoll registriere ich, dass die Topfpflanzen hier auch im Januar draußen auf den Balkons stehen.
    Dann sehe ich mich eine lange, von Palmen gesäumte Allee entlanggehen, fast meine ich, den Rucksack, in dem ich mein restliches Leben verstaut habe, auf den Schultern zu spüren; meine Beine erinnern sich an das Gewicht: Ich ging langsam und gleichmäßig – und wenn ich ein wenig in diesem Bild verweile, erinnere ich mich sogar daran, wie ich meinen Hut, der mir, da ich durch die Last gebeugt war, die Sicht nahm, in den Nacken zu schieben versuchte, was sich als schwierig erwies, weil die Hutkrempe am hinter mir aufragenden Rucksack anstieß.
    Ich ging bis zur Plaza de Colon – ein runder Platz mit Säule, darauf Kolumbus, der mit großer Geste übers Meer wies (allerdings, wie mir auffiel, in die falsche Richtung, nämlich nach Süden) – und bog dann
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