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Bußestunde

Bußestunde

Titel: Bußestunde
Autoren: Arne Dahl
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strich mit den Fingern sanft über die weiche, wollige Oberfläche. Und da wurde das Bild wieder angehalten. Es zeigte die orangefarbene Zottel in starker Vergrößerung.
    »Aha«, sagte Tore Michaelis mit starker Emphase. »Kennst du das Ding da?«
    »Was, die Zottel?«
    »Ja. Es scheint eine Art Amulett zu sein, so ein Schlüsselanhänger, wie sie vielleicht in den Siebzigerjahren populär waren. Hast du es schon mal gesehen?«
    »Nicht, dass ich wüsste. Nein.«
    »Das ist es«, sagte Tore Michaelis, stand auf und begann, die Sachen auf seiner Seite wegzupacken. »Check den Zeitpunkt der Aufnahme und wann sie bearbeitet worden ist.«
    Hjelm hatte inzwischen gelernt, die Ziffern am rechten unteren Bildrand zu lesen. Die Satellitenaufnahme war vom vorhergehenden Tag, sie war in dem Moment gemacht worden, als die Nachricht von Pauls mutmaßlichem Tod übermittelt wurde. Aber sie war erst an diesem Vormittag bearbeitet worden, um 9.46 Uhr.
    Und jetzt war es 12.34 Uhr.
    »Vor drei Stunden«, sagte Hjelm und riss sein Handy aus der Tasche. Es war abgeschaltet, wie Michaelis befohlen hatte.
    Er wollte es gerade einschalten, als Tore Michaelis ihn zurückhielt: »Nicht, bevor wir draußen sind!«
    Hjelm verzog das Gesicht und fügte sich.
    Michaelis’ Bewegungen waren in den letzten Minuten erheblich schneller geworden. Aber sein Gesicht drückte immer noch die gleiche Ruhe aus, als er sagte: »Wir müssen in vierzig Sekunden draußen sein.«
    Hjelm drückte die Festplatte heraus und warf sie Michaelis zu, der sie rasch an ihren Platz stellte und die Schranktüren abschloss. Dann warf er einen letzten Blick auf das Pult. Der Kontrollblick des Spions.
    Alles sah genauso aus wie vorher.
    Sie verließen den Raum, gingen würdig und gemessenen Schrittes durch die Korridore, passierten die unbemannten Sicherheitskontrollen, erreichten den letzten Gang und die Toilette mit dem »Out of order«-Schild, standen an das diarrhöbespritzte Klobecken gepresst und versuchten, sich die Kaftane anzulegen. Das war bedeutend schwieriger, als sie abzustreifen.
    »Eine Minute und fünfzehn Sekunden«, sagte Tore Michaelis sachlich.
    Er war fertig und ging hinaus. Hjelm bekam den verdammten Kaftan nicht an. Es ging einfach nicht.
    Michaelis sagte: »Fünfundvierzig Sekunden. Wir brauchen dreißig Sekunden für den Weg.«
    Hjelm schlang sich das verflixte Bündel Tücher um den Körper, griff die honigtriefenden Kartons und kam heraus. Michaelis musterte ihn kritisch und verschloss die Toilettentür. Dann nahm er einen der Kartons und ging los.
    Draußen an der Laderampe wartete der Lieferwagen, der inzwischen keine Backwaren mehr enthielt. Rawan Fahaidawi ließ sie mit einem kleinen Kopfschütteln einsteigen und fuhr davon.
    »Gutes Timing«, sagte er, als sie den dritten Wachposten auf dem Weg aus dem Hauptquartier hinaus passierten.
    Paul Hjelm und Tore Michaelis sahen sich an.
    Hjelm hielt sein Mobiltelefon in der Hand. Er bemerkte, dass seine Hand zitterte.
    Das Backwarenauto erreichte die letzte Kontrolle. Die jungen, unerfahrenen und von ständiger Angst beherrschten amerikanischen Soldaten betrachteten Rawan Fahaidawis Papiere und ließen ihn durch.
    »Noch hundert Meter«, sagte Michaelis in väterlichem Ton zu Hjelm.
    Nach fünfundsiebzig Metern schaltete Hjelm sein Handy ein. Die Geschwindigkeit, mit der er die Telefonnummer eingab, sollte ihn für alle Zukunft verwundern. Das immer stärker werdende Zittern schien ihm sogar beim richtigen Tippen der Nummer zu helfen.
    Er hielt das Handy ans Ohr.
    Tore Michaelis hörte, wie sich am anderen Ende jemand meldete.
    Paul Hjelm rief: »Viggo?«
    Dann wurde er zusehends blass.

40
    Viggo Norlander hatte einen Beschluss gefasst. Es war ein höchst überraschender Beschluss. Wahrscheinlich hatte er lange in seinem tiefsten Inneren geruht, war herangereift, hatte Wurzeln geschlagen, sich heraufgedrängt und schließlich Frucht getragen.
    Das letzte Gespräch mit dem Arzt war – wie sagt man? – der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
    Er hasste Redensarten.
    Wie: »Alles Leben ist heilig.«
    Pfui Teufel.
    Während er dort auf der Bank im Park des Söder-Krankenhauses saß, hallten die Worte des Arztes in seinem Inneren nach: »Es ist leider so, dass Sie nicht viel mehr als ein paar Monate mit immer stärkeren Schmerzen vor sich haben.«
    Er dachte an seine Lebensgefährtin Astrid, an seine Töchter, Charlotte und die kleine Sandra, und alles schmerzte. Es quälte ihn
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