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Buddha-Boy

Buddha-Boy

Titel: Buddha-Boy
Autoren: Jordan Sonnenblick
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der blaue Ring fünf, der schwarze drei und der weiße Außenring brachte einen Punkt. Man bekam sechs Pfeile für die Höchstzahl von vierundfünfzig Punkten. Damals ging ich in die zweite Klasse, und weil ich so viel addieren musste, kam ich mir schlau vor. Außerdem wollte ich unbedingt auch mal ins Schwarze treffen. Deshalb war ich ganz wild darauf, jede Woche zum Bogenschießen zu gehen. Mir fiel auf, dass die meisten Leute Zielscheiben hatten, die wie Tiere aussahen. Und eines Sonntags, als Dad den Ständer auslud, war unsere alte Zielscheibe durch das ziemlich exakte Abbild eines jungen Rehbocks ersetzt worden. Dass ich jetzt meine Treffsicherheits- und Rechenübungen aufgeben und stattdessen Bambi durchbohren sollte, gefiel mir gar nicht. Also fragte ich meinen Vater, warum wir die alte Scheibe entsorgt hätten. Er streckte den Arm aus, ließ ihn über all die grauhaarigen Typen mit ihrem Pappzoo der Grausamkeit schweifen und sagte: »Du musst mit den Wölfen heulen. Vergiss das nicht, okay? Immer mit den Wölfen heulen.«
    Ich hätte etwas sagen können, ich weiß. Ich hätte Einspruch erheben oder ihn anflehen können, wieder die alte Zielscheibe zu nehmen. Aber ich wusste schon damals, wie mein Vater reagierte, wenn man ihn herausforderte. Also drehte ich mich dem Rehbock zu und zielte auf seine Lunge.
    An meinem zweiten Schultag in Pennsylvania dachte ich immer noch darüber nach, wer ich diesmal sein wollte: ein Skater wie in Kalifornien? Ein Bibelfreak wie in Alabama? Ein reicher, durchgestylter Typ wie in Houston? Ein Möchtegern-Macho wie in Deutschland? Kindern wird immer empfohlen, einfach nur sie selbst zu sein. Aber entweder ist es nicht ehrlich gemeint oder es wird einem nicht gesagt, wie das zu schaffen ist, wenn alle einen so lange schubsen und an einem herumzerren, bis man sich wie alle anderen benimmt.
    Ich saß im Englischunterricht und konzentrierte mich darauf, den eiskalten Matsch zwischen Socken und Sandalen herauszuquetschen, indem ich meine Zehen streckte und wieder zusammenzog, als die Lehrerin ein schlecht laminiertes Rechteck aus grellpinker Pappe über der Tafel befestigte. Es war zerknittert, als ob sie das Ding aus Versehen seitlich in die Maschine gerammt, halb herausgerissen und wieder durchgejagt hätte. Ihr Outfit sah übrigens genauso aus: geistesabwesender Bibliothekarinnen-Look. Sie sagte, dies sei der Spruch des Tages. Man konnte sogar die Großbuchstaben heraushören. Jedenfalls war es eine von diesen müden alten Weisheiten, die einem vom Rand jedes Stundenplans einer Mittelschule ins Auge springen: WENN EIN MANN MIT SEINEN KAMERADEN NICHT SCHRITT HÄLT, HÖRT ER VIELLEICHT EINEN ANDEREN TROMMLER. LASS IHN ZUR MUSIK SCHREITEN, DIE ER HÖRT, EGAL WIE GEMESSEN ODER WEIT ENTFERNT. Ich wusste, dass Henry David Thoreau, der amerikanische Schriftsteller aus dem achtzehnten Jahrhundert, das gesagt hatte, weil es auf dem Schwarzen Brett einer früheren Englischklasse gestanden hatte. Ich wusste außerdem, dass es das genaue Gegenteil von allem war, was mir mein Vater beigebracht hatte.
    Sich von der Masse abheben? Vergiss es!
    Die Lehrerin erzählte eine lange, ausführliche Anekdote über Thoreau, der für seine Ansichten in Schwierigkeiten geriet. Das erinnerte mich an meinen Vater. Also klinkte ich mich aus, nahm eines meiner Hefte und fing an, eine Liste mit allen möglichen Identitäten für mich zu erstellen.
    Als ich eine Reihe von Kandidaten hatte, strich ich einzelne Typen so lange wieder durch, bis meine Tabelle so aussah:
Identität
Pro
Kontra
Sportskanone
(Stehen Mädchen drauf)
Zu anstrengend, außerdem bin ich eine Niete.
Skater
(Billige Klamotten)
Zu kalt, außerdem bin ich eine Niete.
Durchgestylter Typ
(Gute Partys?)
Zu teuer.
Grufti
 
Mom würde mich umbringen. Make-up teuer. Piercings tun weh.
Emo
 
Siehe Grufti.
    Entscheidungen, Entscheidungen. Ich hatte es satt, so zu tun, als wäre ich wie alle anderen – der aufgesetzte Slang, die Internetsuche nach Sportnachrichten, die mir egal waren, das endlose Anglotzen des Senders MTV, um Songtexte, Tanzschritte und was über coole Klamotten zu erfahren. Was mein Vater gemacht hatte, hatte für uns beide nicht funktioniert. Außerdem war er weg. Vielleicht war es an der Zeit, mal was völlig Neues vorzutäuschen. Ich hörte zwar nicht den Beat eines anderen Trommlers, aber ich könnte
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