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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns
Autoren: Varujan Vosganian
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umgerührt. Auch dafür gab es eine Regel: Der Topf stand auf dem Herd, bis die Flüssigkeit wallend zu kochen drohte. Dann wurde der Schaum mit dem Löffelchen abgeschöpft und kam in eine der Tassen. Anschließend wurde der Topf wieder auf den Herd gestellt. Und es folgte das Gleiche, der Kaffee wurde so oft gekocht, wie Tassen bereitstanden. Ich stand gerne beim Großvater, wenn er Kaffee zubereitete. Er war geschickt und weise. Dabei erzählte er mir die merkwürdigsten Dinge. Während du den Kaffee kochst, kannst du alles sagen, was dir durch den Kopf geht, sagte er. Alles wird verziehen. Wer sich um den Kaffee versammelt, darf nicht streiten. Danach mag jeder tun, was er für richtig hält. Es waren seine Freiheitsmomente. Dann ähnelte er meinem alten Engel.
    Nun zu den Tassen. Wie so viele vergessene Gebräuche, ist auch jener des Kaffeetrinkens dahin. Heute trinkt man aus allerlei Tassen, häufig sogar aus den großen Tassen, aus denen man sonst Wasser trinken mag. Auch trinkt man Nescafé, der keinen Satz bildet und erst recht keinen Schaum hat. Der Schaum ist das Wappen des Kaffees, erklärte Großvater, während er mit dem Löffelchen umrührte. Die Stühle sind nicht mehr weich gepolstert und im Kreis aufgestellt zum Gespräch. Die Menschen trinken frühmorgens, noch schlaftrunken und ohne Lust auf ein Gespräch ihren Kaffee. Und für viele ist der Kaffee bloß ein Vorwand, um an der Zigarette zu ziehen.
    Die Kaffeetassen waren klein, schön bunt und von der gleichen Art wie die Untertassen. Die Kaffeekanne hieß auf Türkisch
gezve
und die Tasse
fingean
. Alle Gerätschaften hatten türkische Namen, und selbst den Kaffee nannte man mitunter türkisch
khaife
. Wahrscheinlich hatten sich meinen Ahnen, die diese Dinge vor Zeiten bei ihren Großeltern an den Ufern des Bosporus oder des Euphrat gesehen hatten, die Erinnerungen und die Wörter vermengt.
    Die alten Leute meiner Kindheit tranken ihren Kaffee gegen sechs Uhr abends. Schon die Zeremonie der Zubereitung lenkte das Gespräch auf eine gemäßigte Bahn. Sie schufen sich ein kleines Plätzchen zwischen den Kissen. Dann tranken sie gemächlich den Kaffee, wobei sie geräuschvoll schlürften und zufrieden schnalzten. Es war der Moment, in dem die Welt trotz der Vertreibungen, der blutigen Erinnerungen und verrinnenden Zeit unverändert schien und sorgenfrei, und die Seelen wirkten versöhnt.
    Großvater nahm seine Geige und spielte, bis der Satz in den Tassen getrocknet war und allerlei geschwungene Pfade aufwies. Großmutter las nicht im Kaffeesatz, weil Großvater gesagt hatte, was geschrieben steht, muss ohnehin geschehen. Und das Unglück ist der Welt gegeben wie das Gras und der Regen. Und wenn du das vorgesehene Ungemach zu vermeiden versuchst, ereignet es sich trotzdem, nur dass du es dann anderen aufbürdest. Weshalb also sollte man bei alledem, was man zu erleiden hat, sich auf diese Weise mit einer zusätzlichen Sünde belasten?
    Jetzt muss ich ein paar Worte über den anderen Großvater verlieren, den mütterlicherseits, Setrak Melichian. Er war ein guter und heiterer Mensch. Was ihm das Leben gegeben hat, hatte er angenommen. Und was es ihm genommen hat, war ihm eben genommen worden. Wer mag da etwas aufrechnen, wenn es ihm viel mehr genommen als es ihm gegeben hatte. Er zuckte mit den Schultern, klatschte in die Hände und lachte los. Wie Aischylos auf dem Schlachtfeld von Salamis. Dies war seine Philosophie, sie schwebte über den Zeiten und Menschen. Ansonsten hätte er, konfrontiert mit seinen eigenen Erinnerungen, den Verstand verloren.
    Die Familie meiner Mutter stammte aus Persien. Der erste einigermaßen identifizierbare Urahn war eine Art Prinz, dessen Besitztümer sich östlich des Urmia-Sees erstreckten, in den heutigen Gebieten um Täbris. Man nannte ihn Melic, was in persischer Sprache Prinz heißt. Davon leitet sich auch der Familienname meiner Mutter ab: Melichian, also die des Melic.
    Prinz Melic widersetzte sich den Türken, bis er begriffen hatte, dass sein Widerstand aussichtslos war, dann nahm er seine Familie und seine bewegliche Habe und zog in die Berge des Karabagh, weiter westlich. Später, wiederum von Eroberern vertrieben, ließ er sich auf einem der Bergplateaus um Erzerum nieder. Diese Geschichte ist dreihundert Jahre alt und älter. Melic hatte sieben Söhne. Mit ihren Familien haben sie eine Niederlassung gegründet, die Zakar hieß.
    Großvater Setrak spielte mit mir. Wir banden Knoten in einen Bindfaden und
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