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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns
Autoren: Varujan Vosganian
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Menschenmenge in die Knie, dann fiel er, die beiden Mädchen an den Händen, vornüber zu Boden. Sie drehten ihn um, schlossen ihm die Augen und öffneten seine verkrampften Hände. Dann wachten sie bei ihm, hatten wunderswo einen Kerzenstummel gefunden. Er war nicht der Einzige, der in dem damaligen Durcheinander vor Angst seine Seele ausgehaucht hat. Bevor sie nach Constanța kamen, gab der Kapitän den Befehl, alle Toten ins Meer zu werfen. So kam es, dass das Schwarze Meer zum bewegten Grab meines Urgroßvaters Baghdasar Terzian wurde.
    Dann war da noch der Schrank mit den Büchern. Großvater Garabet kannte fast alle Alphabete: das lateinische, das kyrillische, das griechische und das arabische. Damit du keinen Fehler machst, sagte er. Das Alphabet ist der Anfang, deshalb heißt es auch Alphabet. Du kannst beginnen, wo auch immer du magst, aber unter der Voraussetzung, dass du den Anfang entschlüsseln kannst. Großvater hat die Anfänge entschlüsselt, aber er hat die Enden durcheinandergebracht. Als er auf dem Totenbett lag, wurden wir, die Kinder, herbeigerufen, ihn zu sehen. Wir verstanden nicht, was er sagte. Er wirkte ruhig und sprach mit großer Weisheit. Aber ich konnte nichts verstehen. Danach erklärte mir Vater, Großvater habe beim Sprechen die Sprachen vermengt: das Persische, Arabische, Türkische und Armenische. Sämtliche Gefilde, die er in seiner Kindheit und Jugend gekannt hatte, waren in ihm wieder lebendig geworden. Genauso wie einer vor der Abreise in aller Eile die Dinge packt, die ihm in die Hand geraten, hatte auch er, bevor er von dieser Welt ging, aufs Geratewohl nach den Wörtern geschnappt.
    Ebenso die Bücher. Es gab türkische Bücher mit alten orientalischen Lettern, Zeichenlehrbücher auf Englisch und alte Ausgaben des Larousse. Häufig blätterte Großvater in einem wunderbaren Buch in deutscher Sprache, es war ein Buch über Teppiche. Unsere Teppiche sind wie die Bibel, sagte er. Du kannst alles darin finden, von den Anfängen bis heute. Beide suchten wir die Erscheinungsformen der Welt. Hier ist das Auge Gottes, riet ich, und Großvater bestätigte es. Und das ist ein Engel. Nein, das ist kein Engel. Er ist alt, es muss ein Erzengel sein. Vielleicht Raphael, er ist der älteste von allen. Gerne hätte ich ihm etwas von dem alten Engel draußen im Hof erzählt, der sommers nach Jod roch und sich im Winter die nackten Füße im Schnee wusch. Aber ich hatte begriffen, dass es den Menschen, die ihre Kindheit nicht ohne Angst verlebt hatten, nicht möglich war, alten Engeln zu begegnen. Und Großvater gelangte zu der Seite, auf die er am stolzesten war: der Teppich, den er selbst gewebt hatte. Dieser Teppich lag in unserem Zimmer, dem Kinderzimmer, und heute befindet er sich im Zimmer meiner Tochter Armine. Es ist wichtig, sagte Großvater, über dem Kopf ein sicheres Dach und unter den Füßen einen dicken Teppich zu haben. Unser Perserteppich war dicht, von Hand geknüpft, mit vielen Knoten. Ein Teppich muss so dick sein, erklärte Großvater, dass er eingerollt genau so wenig durchhängt wie ein Baumstamm der gleichen Stärke. Unser Teppich ist durch die Geschichte gegangen, und das nicht irgendwie. Im August 1944 waren drei russische Offiziere bei uns im Haus einquartiert. Sie tranken die ganze Nacht und besoffen sich gründlich. Großvater und sein Cousin Sahag Șeitanian, der Mann von Tante Armenuhi, saßen bis zum Morgengrauen wach und passten auf; jedes Mal, wenn einer der Russen den brennenden Zigarettenrest auf den Teppich fallen ließ, sprangen sie herbei. Unter Rempeleien und Schmähungen haben Garabet und Sahag alle Stummel eingesammelt. Es blieben bloß zwei, drei kleine Brandstellen zurück, die man heute noch sehen kann. Großvater hatte eine wahrhaft kantianische Sicht auf die Welt: das Dach über dem Kopf, den Altar vor Augen und einen weichen Teppich unter den Füßen.
    Ich konnte nicht alle Bücher im Haus lesen. Aber ich kannte sie nach ihrem Geruch. Großvater Garabet hat mich gelehrt, auf diese Weise die Bücher zu unterscheiden. Ein gutes Buch hat einen bestimmten Geruch. Fest in seine Lederdeckel eingebunden, riecht es beinahe menschlich. Manchmal ertappe ich mich, wie ich in Buchhandlungen an den Büchern schnuppere. Als wäre ich blind, sagte ich. Und wenn, zuckte Großvater Garabet mit der Schulter. Von alledem, was du bist, gehören die Augen am wenigsten dir. Das Licht ist wie ein Vogel, der seine Eier in ein fremdes Nest legt.
    Ich verstand die Bücher
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