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Brunetti 05 - Acqua alta

Brunetti 05 - Acqua alta

Titel: Brunetti 05 - Acqua alta
Autoren: Donna Leon
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er, daß der obere Teil des Bettes etwas hochgestellt war und Brett halb saß, den Kopf von Kissen gestützt. Flavia stand neben ihr und hielt ihr die Tasse an die Lippen, während Brett durch den Strohhalm trank. Der Anblick des zerschundenen Gesichts war nicht mehr so schockierend, entweder weil Brunetti Zeit gehabt hatte, sich daran zu gewöhnen, oder weil er jetzt sehen konnte, daß ein Teil davon noch heil war.
    Er bückte sich, nahm seine Aktentasche auf und trat ans Bett. Brett zog eine Hand unter der Decke hervor und schob sie in seine Richtung. Er umfaßte sie kurz mit der seinen. »Danke«, sagte sie.
    »Ich komme morgen wieder, wenn ich darf.«
    »Ja, bitte. Ich kann es jetzt nicht erklären, aber morgen.« Flavia wollte etwas einwenden, hielt sich aber dann zurück. Sie bedachte Brunetti mit einem Lächeln, das zuerst einstudiert wirkte, dann aber zu ihrer beider Erstaunen ganz natürlich wurde. »Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte sie, wobei sie sich und ihn erneut mit der Aufrichtigkeit ihres Tons überraschte.
    »Bis morgen dann«, sagte er und drückte noch einmal leicht Bretts Hand. Flavia blieb neben dem Bett stehen, als er aus dem Zimmer ging. Er nahm die Treppe, die sie heraufgekommen war, und bog unten links in den überdachten Portikus ein, der den offenen Hof an einer Seite begrenzte. Eine alte Frau in einem Soldatenmantel saß strickend in einem Rollstuhl an der Wand. Zu ihren Füßen stritten sich drei Katzen um eine tote Maus.

4
    Auf dem Rückweg zur Questura ging Brunetti das Gesehene und Gehörte nicht aus dem Kopf. Sie würde gesunden, soviel wußte er; ihr Körper würde heilen und wieder sein, was er vorher gewesen war. Signora Petrelli glaubte, sie werde es überstehen, aber seine Erfahrung sagte ihm, daß die Nachwirkungen einer solchen Gewalttat länger anhalten würden, womöglich jahrelang, und sei es nur in Gestalt immer wiederkehrender Ängste. Aber vielleicht irrte er sich ja und Amerikaner waren da widerstandsfähiger als Italiener, und vielleicht würde sie unbeschadet daraus hervorgehen, aber er konnte seine Sorge um sie nicht unterdrücken.
    Als er die Questura betrat, kam ein uniformierter Beamter auf ihn zu. »Dottor Patta sucht Sie, Commissario«, sagte er leise und in ganz neutralem Ton. Alle schienen hier leise und in neutralem Ton zu sprechen, wenn es um den Vice-Questore ging.
    Brunetti dankte ihm und steuerte die hintere Treppe an, den schnellsten Weg zu seinem Büro. Das Telefon klingelte, als er eintrat. Er stellte seine Aktentasche auf den Schreibtisch und nahm den Hörer ab.
    »Brunetti?« fragte Pattas Stimme unnötigerweise, bevor Brunetti sich noch melden konnte. »Sind Sie es?«
    »Ja, Vice-Questore«, antwortete er, während er die Papiere durchblätterte, die sich im Laufe des Vormittags auf seinem Schreibtisch angesammelt hatten.
    »Ich versuche Sie schon den ganzen Vormittag zu erreichen, Brunetti. Wir müssen eine Entscheidung wegen dieser Konferenz in Stresa treffen. Kommen Sie doch gleich mal zu mir herunter«, sagte er im Befehlston, den er dann mit einem sehr widerwilligen »bitte« abschwächte.
    »Ja, Vice-Questore. Sofort.« Brunetti legte auf, sah die restlichen Papiere durch, öffnete einen Brief, den er zweimal las, und trat dann ans Fenster, um sich noch einmal den Bericht von dem Überfall auf Brett Lynch anzusehen, wonach er sich auf den Weg zu Pattas Büro machte.
    Signorina Elettra war nicht an ihrem Arbeitsplatz, aber eine niedrige Vase voller gelber Fresien erfüllte das Zimmer mit einem Duft, der fast so süß war wie ihre persönliche Gegenwart.
    Er klopfte und wartete. Auf ein gedämpftes »Avanti« hin trat er ein. Patta posierte im Ausschnitt eines der großen Fenster seines Zimmers und blickte auf die ewig eingerüstete Fassade von San Lorenzo hinaus. Das bißchen Licht, das hereinfiel, spiegelte sich auf den Glanzstellen an Pattas Körper: den Schuhspitzen, der Goldkette, die schräg über seiner Weste hing, und dem winzigen Rubin in seiner Krawattennadel. Er sah kurz zu Brunetti herüber und ging an seinen Schreibtisch. Während er das Zimmer durchquerte, fühlte Brunetti sich an Flavia Petrellis Gang über den Hof des Krankenhauses erinnert. Der Unterschied lag einzig darin, daß es ihr völlig gleichgültig war, welche Wirkung sie erzielte; für Patta war Wirkung der einzige Zweck jeder Bewegung. Der Vice-Questore nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und bedeutete Brunetti mit einer Handbewegung, sich auf den Stuhl davor
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