Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
Vom Netzwerk:
schwieg er beharrlich.
    Am nächsten Tag erreichten wir einen Steilgipfel namens
    Sarana-Nose. Es hatte aufgehört zu schneien. Es hatte
    aufgehört zu nieseln. Sonnenstrahlen fielen durch den
    wirbelnden Nebel wie Lampenlicht durch ein Aquarium voller
    Wasserpflanzen. Wir gelangten an eine balkonartige
    Einfriedung an der Bergflanke, in der etliche kleine Steinhügel und eine Schar primitiver Holzkreuze aus dem Matsch ragten,
    um der Nachwelt zu zeigen, daß hier Menschen begraben
    lagen. Ein einziges Kreuz tat sich mit einer runden Gedenktafel hervor, auf der etwas in japanischen Pinselstrichzeichen
    geschrieben stand. Ich stand neben Henry in der frostigen
    Kälte, dem zerrenden Wind, klein wie ein Zwerg auf einem
    großen Vulkankegel mitten im Meer am Ende der Welt.
    »Hier liegt dein Vater«, sagte Henry.
    »Woher weißt du das?«

    »Während der Säuberungsaktionen kam hier eine Abteilung
    der Elften Air Force herauf – als Menschenjäger, nicht bloß als Beobachter. Sie starben unter den Kugeln oder Handgranaten
    von Scharfschützen. Die Scharfschützen haben sie hier
    begraben und ihres Opfertodes gedacht.«
    »Woher weißt du das?« sagte ich wieder.
    Henry übersetzte die handgeschriebene Inschrift: »Sleeping here, five brave soldier heroes who forfeited youth and
    happiness for their motherland.«
    »Das soll ein Japs geschrieben haben?« sagte ich.
    Henry schwieg.
    »Ein Japs, den mein Daddy und seine Kameraden zur Strecke
    bringen und erschießen wollten?«
    Henry sagte immer noch nichts.
    »Woher weißt du, daß das die Gräber von Dick Boles und
    seinen Kameraden sind? Stehen da Namen auf der Tafel?«
    »Ich fürchte, nein.«
    »Woher weißt du es dann?«
    »Sleeping here, five brave soldier heroes who forfeited youth and happiness for their motherland«, las Henry wieder.
    »Das beantwortet nicht meine…«
    »Schschsch…«, sagte Henry und hob den Fäustling an die
    Lippen, mitten zwischen die beiden häßlichen Narbeninseln, in
    denen gestern die Pflöcke gesteckt hatten. »An diesem Ort,
    Daniel, vor deines Vaters Grab und angesichts der
    ungewöhnlichen Rechtschaffenheit seiner Feinde, da solltest
    du in Demut verstummen.«
    »A-Aber ich…«
    »Schschsch…«
    Ich neigte den Kopf. Erinnerungen stiegen hoch. Als ich
    wieder aufsah, gewahrte ich einen kahlköpfigen Adler, der sich eine Thermik zunutze machte und sich in den hohen
    gespinstartigen Himmel schraubte. Seine Klauen schnitten sich

    in meine Empfindungen wie die Windungen einer Schraube.
    Schließlich blickte ich Henry an, beinah blind vom scharfen
    Wind und der dünnen Wachsschicht aus Gram vor den Augen.
    Henry langte in sein Marschgepäck und kramte einen
    brandneuen Baseball der National-League hervor. Ich fing ihn
    mit beiden Händen auf, wie ein Amateur. Ich stand da und
    drehte und wendete den elfenbeinfarbenen Ball eine Minute
    lang zwischen den Fäustlingen, bis ich auf die Idee kam, ihn in eine natürliche Lücke des Steinhügels zu keilen, unter dem
    vielleicht mein Daddy lag. In dieser Lücke glänzte der Ball wie ein Leuchtturmfeuer, wie der Brennpunkt der ganzen Insel
    Attu, wie der Angelpunkt der ganzen Welt.
    Ich nahm Mamas Brownie heraus und knipste ein Bild.
    Da der Abend näherrückte, machten Henry und ich uns
    wieder auf den Weg zur Baracke. Der Schmerz im Knie hatte
    ein wenig nachgelassen, und mein Hinken schien weniger
    ausgeprägt. Ich fragte Henry, was denn aus seinem alten Herrn geworden sei. Er gab keine Antwort.
    »Komm schon, Henry. Du hast ihn doch nicht in Alabama
    gelassen, oder?«
    Er schüttelte den Kopf, ging beharrlich weiter und blieb
    nachdenklich.
    »Was hast du denn mit ihm gemacht?«
    »In einer Höhle auf einer der Islands-of-Four-Mountains
    südwestlich von Umnak liegen viele uralte Aleutenmumien. Zu
    diesen in Gras und Fell gewickelten Skeletten habe ich ihn
    gebracht. Dort soll niemand mehr seine Ruhe stören. Dort wird
    er ruhen, bis der Vulkanismus die Inseln wieder versenkt, die
    er einst geschaffen hat, oder, Daniel, bis die Welt in Feuer oder Eis vergeht. Ich habe mich damit abgefunden.«
    Fego flog mich in seiner klapprigen Propellermaschine
    zurück nach Kodiak. Henry hatte nicht mitkommen wollen. Er
    hatte zwar vor, auf die Seward Peninsula* von Alaska

    zurückzukehren und Ungpek einen Besuch abzustatten, aber
    bis dahin brauche er noch die Einsamkeit, um sich in Ruhe
    Gedanken über seine Zukunft zu machen. Er hatte Fego einen
    kleinen Stapel US-Banknoten unterschiedlicher

Weitere Kostenlose Bücher