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Bruce: Die Springsteen-Biografie (German Edition)

Bruce: Die Springsteen-Biografie (German Edition)

Titel: Bruce: Die Springsteen-Biografie (German Edition)
Autoren: Peter Ames Carlin
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an dem es kein Zurück mehr gab.«
    In seiner Erinnerung ist das Haus seiner Großeltern für Bruce ein seltsamer, karger Ort, dessen rissige Wände anschaulich von der von Verlust, Erinnerungen und Reue beherrschten Atmosphäre zeugten. »Ihre tote Tochter war allgegenwärtig«, sagt er. »An jeder Wand hing ihr Bild, sie stand überall und immer im Mittelpunkt.« Jede Woche nahmen Fred und Alice die ganze Familie mit zum St.-Rose-of-Lima-Friedhof, wo jeder den Grabstein berühren und Unkraut zupfen musste. »Dieser Friedhof war so etwas wie unser Spielplatz«, sagt Ginny. »Wir waren ja dauernd dort.« Auch durch die vielen in der Nachbarschaft lebenden alten Verwandten war der Tod damals allgegenwärtig. »Wir waren bei vielen Totenwachen dabei«, erzählt Bruce, »und man war quasi daran gewöhnt, Tote zu sehen.«
    Der Tod war das eine. Das andere war, dass Alice, in deren europäisch geprägtem Katholizismus Aberglaube und lustvoll ausgemalte Schrecken keine unbedeutende Rolle spielten, große Angst vor der drohenden ewigen Verdammnis hatte. Für Oma Alice zeugten jeder Blitz und jeder Donnerschlag von der Gegenwart des Teufels, sodass sie ein Gewitter stets in helle Panik versetzte. In Windeseile schnappte sie sich die Kinder und rannte zum Haus ihrer Schwester Jane, wo eine ganze Batterie mit Flaschen voller Weihwasser bereitstand, um ihre Familie vor Gefahren wie diesen zu schützen. »Die Leute kauerten ganz eng beieinander«, erinnert sich Bruce. »Sie waren geradezu hysterisch.«
    Seit Freds linker Arm nach einem schweren Schlaganfall Ende der 50er-Jahre gelähmt war, nahm er Bruce mit, wenn er die Mülltonnen der Nachbarn nach alten Radios und anderen Elektroteilen durchsuchte. Die Zeit, die sie zusammen verbrachten, vertiefte die Beziehung zwischen Großvater und Enkel noch. Der ungewöhnliche Lebensrhythmus im Hause seiner Großeltern wurde immer mehr zu seinem eigenen. Denn während Adeles Tagesablauf durch ihre Stelle als Sekretärin geregelt war, spielte für den Rest der Familie – inklusive Doug, der inzwischen häufig die Arbeitsplätze wechselte und oft auch länger keinen Job hatte – Zeit keine Rolle. »Es gab keine Regeln«, so Bruce. »Um ehrlich zu sein: Ich kenne kein Kind, das so lebt, wie ich damals lebte.« Mit vier Jahren blieb er bis spät in die Nacht wach. Er stand auf, tapste ins Wohnzimmer, blätterte in seinen Bilderbüchern, hantierte mit seinen Spielsachen und sah fern. »Um halb vier in der Früh, während das ganze Haus schlief, saß ich dort rum und sah The Star-Spangled Banner, bis das Testbild kam. Und damals war ich noch nicht einmal im Schulkindalter.« Jahre später, nachdem er von der Schule abgegangen war und das für einen Musiker unvermeidliche Nachtleben führte, hatte er eine Erleuchtung: »Ich lebte plötzlich wieder so wie als Fünfjähriger. Es war wie: ›Hey, dieser ganze Schulkram war ein einziger Fehler!‹ Es war eine Rückkehr zu meinem Leben als Kleinkind. Das war zwar völlig unnormal gewesen, aber so war es nun mal.«
    Adele las ihrem Sohn jeden Abend aus einem Bilderbuch mit dem Titel Brave Cowboy Bill vor. Bruce war derart fixiert auf dieses von Kathryn und Byron Jackson geschriebene und von Richard Scarry illustrierte Kinderbuch aus dem Jahr 1950, dass Adele es noch an ihrem achtzigsten Geburtstag 2005 auswendig kannte. Die Hauptfigur, Bill, der ein bisschen wie ein Sechsjähriger aussieht, reitet durch den Wilden Westen, stellt Viehdiebe, schießt Rehe und Hirsche zum Abendbrot, freundet sich mit Indianern an – wenn auch mit vorgehaltener Waffe (»Wir werden Freunde sein, erklärte er ihnen mit fester Stimme …«) –, erlegt einen Bären, geht als Sieger aus einem Rodeo hervor und bleibt die ganze Nacht wach, um am Lagerfeuer Lieder zu singen, bevor er nach Hause geht und vom Wilden Westen träumt, wo sich »niemals jemand auflehnte gegen den mutigen Cowboy Bill«. All das verschafft uns einen interessanten Einblick in die Fantasiewelt eines Jungen, der in derart unkonventionellen Verhältnissen aufwuchs. 2
    Als Bruce alt genug war, um allein auf die Straße zu gehen und mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft zu spielen, verstörte ihn, was er bei seinen Besuchen bei den Familien seiner Spielkameraden mitbekam. Plötzlich sah er, dass die Zimmer seiner Freunde frisch gestrichen waren, dass deren Fensterrahmen nicht klapperten und der Putz nicht von der Küchendecke herunterzufallen drohte. Die Erwachsenen machten einen soliden,
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