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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition)
Autoren: Philippe Claudel
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Melodie seiner Sprache und sah in die Landschaft. So vergingen schöne Stunden.
    Ich habe nie erfahren, wie alt Diodème wurde. Manchmal kam er mir sehr alt vor. Dann wieder war ich überzeugt, dass er nur wenige Jahre älter war als ich. Er hatte das klassische Profil eines Griechen oder Römers, deren Bilder man auf alten Münzen sieht. Sein schwarzes lockiges Haar reichte ihm bis zu den Schultern, und manchmal ähnelte er jenen Helden aus Tragödien und Epen längst vergangener Zeiten, die ein Zauberspruch aus dem Schlummer erweckt oder vollends ins Verderben stürzt. Oder den Hirten aus der Antike, bekanntlich meistens verkleidete Götter, die zu den Menschen kommen, weil sie ihnen den Weg weisen, sie verführen oder zugrunde richten wollen.
    « Böden und Herz geleicht , ein seltsamer Wahlspruch …», hatte Diodème abschließend gesagt, während er auf einem Grashalm kaute und Dunkelheit sich über unseren Schultern herabsenkte. «Ich frage mich, wo der Alte das wohl herhat. Hat er den Spruch wohl aus einem Buch? In Büchern findet man manchmal so sonderbare Dinge.»

5
    Orschwir saß in der Küche, am Kopfende des vier Meter langen Tisches, der aus dem Stamm einer mehrere hundert Jahre alten Eiche geschnitzt worden war, diese majestätischen Bäume, die im Wald von Tännaringen wachsen. Neben ihm stand eine junge Magd, die ich nicht kannte. Sie musste etwa sechzehn Jahre alt sein, ihr Gesicht war hübsch und rund wie das Gesicht der Heiligen Jungfrau auf alten Gemälden. Sie war blass, doch ihre Wangen schimmerten rosa wie eine Pfingstrose. Ihre Bewegungen waren so spärlich, dass sie fast aussah wie eine lebensgroße Puppe. Erst später habe ich erfahren, dass sie blind ist. Denn merkwürdigerweise schienen ihre Augen, obwohl sie etwas starr blickten, alles zu sehen. Das Mädchen bewegte sich mühelos durch den Raum, ohne die Möbel auch nur zu streifen. Sie war eine entfernte Verwandte, die die Orschwirs bei sich aufgenommen hatten. Sie kam aus Nehsaxen, ihre Eltern waren gestorben, ihr Elternhaus war zerstört und ihr Land beschlagnahmt worden. Man nannte sie die Keinauge .
    Orschwir schickte sie mit einem leisen Pfiff weg, und sie entfernte sich lautlos. Dann winkte er mich heran und bat mich, mich zu setzen. Jetzt, am frühen Morgen, war er etwas weniger hässlich als sonst, als hätte der Schlaf seine Haut geglättet. Er war noch in Unterkleidung. Um seine Taille lag ein Ledergürtel und wartete auf die dazugehörige Hose, über die Schultern hatte er einen Paletot aus Ziegenhaar geworfen, und auf dem Kopf trug er bereits seine Mütze aus Otterfell. Vor ihm auf dem Teller dampften gebratene Eier und Speck. Orschwir aß bedächtig und schnitt sich ab und zu ein Stück Graubrot ab.
    Er schenkte mir ein Glas Wein ein, sah mich ohne ein Zeichen der Verwunderung an und sagte nur: «Na, wie geht’s?» Er wartete aber meine Antwort gar nicht ab, sondern schnitt hingebungsvoll gleichmäßige Stücke von der letzten dicken Speckscheibe, die durch das Braten fast durchsichtig geworden war. Das Fett lief über den Teller wie Wachstränen an einer Kerze heruntertropfen. Ich beobachtete ihn oder vielmehr sein Messer, das Messer, das er an diesem Morgen zum Essen gebrauchte, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, und das er am Abend zuvor in den Körper des Anderen gestochen hatte.
    Meine Gedanken auszusprechen ist mir immer schon schwergefallen. Lieber schreibe ich, denn so habe ich das Gefühl, als könnte ich die Wörter zähmen. Sie fräßen mir wie junge Vögel aus der Hand, und ich könnte mit ihnen alles machen, was ich will. Spreche ich sie aber aus, entkommen sie mir. Der Krieg hat mich noch schweigsamer gemacht. Im Lager habe ich erlebt, was Worte anrichten können. Vorher habe ich übrigens noch viel gelesen, vor allem Gedichte. Professor Nösel hatte mich während meines Studiums auf den Geschmack gebracht, und ich behielt mir diese schöne Gewohnheit bei. Wenn ich zu meinen Erkundungsgängen aufbrach, vergaß ich nie, mir einen Gedichtband einzustecken. Wenn sich dann vor mir die gewaltigen Berge auftaten, wenn ich die steil hinauf wachsenden Wälder und das Schachbrettmuster der Wiesen vor mir sah, über denen der unermessliche Himmel zu wachen schien, las ich mir selbst einige Verse vor und las sie noch einmal, wenn ich spürte, dass sie in mir so etwas wie ein angenehmes Summen erzeugten, das Echo einer unbekannten Stimme tief in meinem Inneren, deren Worte ich nicht aussprechen
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