Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition)
Autoren: Philippe Claudel
Vom Netzwerk:
lesen ist: Böden und Herz geleicht , was ungefähr heißt: «Bauch und Herz vereint».
    Über die Bedeutung dieses Satzes habe ich oft nachgedacht. Man hat mir gesagt, Orschwirs Großvater habe ihn schnitzen lassen. Mit «man» meine ich eigentlich den Lehrer Diodème, der mir davon erzählt hat. Er war älter als ich, aber wir waren trotzdem Freunde. Wenn er Zeit hatte, begleitete er mich gerne auf meinen Erkundungsgängen durchs Gelände, und ich genoss die Plaudereien mit ihm, denn er war ein ungewöhnlicher, manchmal sogar weiser Mensch, der viel wusste, wahrscheinlich sogar mehr, als er zugab, und der sehr gut lesen, schreiben und rechnen konnte; aus diesem Grund hatte ihn übrigens der vorige Bürgermeister zum Lehrer ernannt, obwohl er nicht von hier stammte, sondern aus einem anderen Dorf, vier Stunden Fußweg Richtung Süden.
    Diodème ist vor drei Wochen gestorben, unter so unerklärlichen Umständen, dass ich seitdem noch mehr Angst um mein Leben habe. Und die Zeichen, dass ich bedroht werde, mehren sich. Am Tag nach Diodèmes Tod habe ich angefangen, diese Geschichte hier aufzuschreiben. Zusätzlich zu dem Bericht, den die anderen von mir haben wollen. An beiden Geschichten arbeite ich jetzt gleichzeitig.
    Seine freien Stunden verbrachte Diodème in den Archiven des Dorfes. Manchmal sah ich, dass sein Fenster noch spät in der Nacht erleuchtet war. Er lebte allein in einer winzigen, unbehaglichen und verstaubten Wohnung über der Schule. Seine Einrichtung bestand nur aus Büchern, Dokumenten und alten Personenstandsbüchern. «Ich möchte verstehen», hatte er mir einmal gesagt. «Wir verstehen nichts, oder nur sehr wenig. Die Menschen leben wie Blinde, und den meisten genügt das. Ich glaube sogar, dass sie gar nichts anderes wollen, sie wollen keine Kopfschmerzen und keinen Schwindel, sie wollen sich den Wanst vollschlagen, schlafen, bei ihren Frauen unter die Decke kriechen, und wenn ihr Blut in Wallung kommt, in den Krieg ziehen, weil man es ihnen befiehlt, und schließlich sterben sie, ohne recht zu wissen, was sie danach erwartet, aber sie hoffen trotzdem, dass sie etwas erwartet. Schon als ich noch ein kleiner Junge war, liebte ich es, Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen. Manchmal übrigens komme ich nicht weit, aber das ist nicht so schlimm, denn ich habe den richtigen Weg eingeschlagen.»
    Vielleicht ist Diodème deshalb gestorben, weil er alles verstehen, weil er Worte und Erklärungen für etwas finden wollte, was unerklärlich ist und was man niemals wissen darf. Damals wusste ich nicht recht, was ich ihm antworten sollte. Ich habe wohl gelächelt. Lächeln kostet nichts.
    Aber ein anderes Mal, an einem Nachmittag im Frühling, hatten wir uns über Orschwir, sein Tor und den Spruch unterhalten. Das war noch vor dem Krieg. Poupchette war noch nicht auf der Welt. Ich hatte mich mit Diodème in das kurze Gras auf der Hochweide des Burenkopfs gesetzt, am Pass zum Dura-Tal und der dahinterliegenden Grenze. Bevor wir den Abstieg begannen, ruhten wir uns etwas aus, neben der Kreuzigungsgruppe, die Jesus mit einem so fremdartigen Gesicht darstellt, dass man ihn für einen Afrikaner oder Mongolen halten könnte. Es war Abend. Von unserem Platz aus sahen wir das ganze Dorf, es schien so klein, dass wir es in der hohlen Hand hätten halten können, wie eine Ansammlung von Spielzeughäuschen. Die untergehende Sonne schien golden auf die Dächer, die vom Regen noch glänzten. Überall dampfte es, und in der Ferne zerflossen die trägen Schwaden in der flirrenden Luft und ließen den Horizont verschwimmen.
    Diodème hatte ein paar Zettel aus seiner Tasche gezogen und mir den Schluss des Romans vorgelesen, an dem er gerade schrieb. Romane waren Diodèmes ganze Leidenschaft, vorsichtig geschätzt schrieb er einen pro Jahr, auf zerknittertes Papier, aber auch auf Einwickelpapier oder irgendwelche Zettel. Er zeigte seine Romane niemandem, nur mir las er zuweilen ein paar Stellen vor. Er erwartete nichts von mir, er fragte mich nie, wie ich darüber dachte. Das war auch besser so, denn ich wäre nicht in der Lage gewesen, ihm meine Meinung zu sagen. Seine Romane erzählten immer ähnliche, komplizierte Geschichten, und verschlungene, nicht enden wollende Sätze berichteten von Verschwörungen, tief in der Erde vergrabenen Schätzen und von Mädchen, die gefangen gehalten wurden. Ich mochte Diodème gern und auch seine Stimme. Ihr Klang ließ mich träumen, und mir wurde warm dabei; ich lauschte der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher