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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug
Autoren: Marieke Pol
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Stich lassen dürfen. Sie schluchzt laut auf, jetzt ist ihr alles egal, soll man sie doch hören, denn das Schlimmste an allem ist, dass hinter der Nachricht, hinter diesem elenden Telefonanruf aus Neuseeland, eine wichtige Entscheidung wartet, die sie nun alleine treffen muss.
     
    In Greymouth regnet es. Der Briefträger war nicht in der Lage, die Mahnungen, das Kirchenblatt und die Todesanzeige trocken in den Briefkasten zu befördern. Das hätte ich damals besser gemacht, denkt Ada. Jahrelang hat sie mit ihrem Körper die Post vor Platzregen und Windböen geschützt, und die Briefe blieben trocken. Sie ist immer gehorsam gewesen.
    Weil Derk sie von der Türöffnung auf diese besondere Art weiter beobachtet, steht sie von ihrem Stuhl am Küchentisch auf und knüllt die Todesanzeige zu einem kleinen Knäuel zusammen. Sie wirft es in den Abfalleimer, als müsste sie demonstrieren, wie unbeteiligt sie ist, sieh nur, es macht mir überhaupt nichts aus, Frank ist gestorben, aber wer ist das überhaupt, wie viele Dutzende von Jahren habe ich nicht mehr an ihn gedacht, es würde mir nicht in den Sinn kommen, zu der Beerdigung zu gehen, warum sollte ich? Durch die Art, wie sie sich wieder an den Tisch setzt und nach dem Kartoffelmesser greift, betont sie ihre Vertrauenswürdigkeit, aber sie sieht an Derks Blick, dass er ihr nicht glaubt. Sie ist eine Lügnerin geworden, durch all die Gehorsamkeit. Sie sieht ihm nach, ihrem Mann, wie er sich kopfschüttelnd entfernt, über den Flur, zurück zu seinem Sessel am Wohnzimmerfenster. Sein magerer, gebogener Rücken, der eingefallene Hals, sein schlurfender Gang. Auch bei sich bemerkt sie immer wieder die Neigung, die Füße nicht anzuheben, als hätte man Angst davor, den Kontakt mit der Erde unter den Füßen zu verlieren. Sie wartet, bis er drinnen ist, und hört dann auf zu schälen. Sie fischt den Brief aus dem Abfalleimer, wischt den Kaffeesatz ab und steckt ihn in die Schürzentasche.
    Den Rest des Morgens verbringt sie im Backpackers’ Café an der Ecke, in der Nähe des Flusses, unter einem großen Insekt aus Holz, das an der roten Wand hängt. Hier wird sie niemand suchen. Die Möbel im Café stammen aus den Sechzigerjahren, mit ihrer kühlen Hand reibt sie über die Tischplatte aus Resopal. »Camp«, das kennt sie von ihren Enkelkindern, aber sie hat jahrelang an genau solch einem Küchentisch gesessen. Niemand sieht sie merkwürdig an, vielleicht finden sie es gerade »cool«, so eine Oma, die sich nicht an der Musik stört. Kinder, denkt sie milde, das sind doch nur Kinder, wie war das bei uns früher, wir waren genauso alt, aber waren wir auch so jung? Sieh sie dir an, sie kommen aus aller Welt, treffen sich an Orten wie diesem und sprechen dann dieselbe Sprache. Sie haben keine Angst. Oder vielleicht auch doch, aber sie zeigen es nicht. Die Angst im Zaum halten, indem man sich ins Internet flüchtet, das ist doch wohl erlaubt, warum auch nicht? Ich wollte auch immer Briefe schreiben, in den ersten Jahren.
    Derk hatte ihr davon abgeraten.
    Eine Weile betrachtet sie drei japanische Mädchen, die kichernd vor einem Computer sitzen. In ihrer Jackentasche spürt sie die zerknitterte Todesanzeige. Unbewusst dreht sie immer dieselbe widerspenstige Locke ihres weißen Haares um den Finger, als würde sie nachdenken. Aber sie hat ihren Beschluss bereits gefasst. Als sie genug Mut gesammelt hat, steht sie vorsichtig auf. Doch der Schmerz in ihren Kniegelenken raubt ihr für einen Moment den Atem.
    Wie erwartet, ist Derk fuchsteufelswild. Am Ende sagt er nichts mehr und starrt unablässig von seinem Sessel aus nach draußen, wo der Regen an die Scheiben schlägt. Er reagiert nicht einmal, als sie mit übergezogener Jacke hereinkommt, den Becher Tee neben ihn stellt und ihm einen Kuss auf seinen Scheitel gibt. Nicht, dass ich dich nicht lieben würde, etwas in der Art will sie ihm sagen, aber es gelingt ihr nicht, die Mauer aus Groll und erbittertem Schweigen zu durchbrechen. Die Mauern von Jericho sind durch Trompetenschall zusammengestürzt, ihr hat schon immer der Atem für einen guten, kräftigen Ton gefehlt. Daher streichelt sie ihm sanft über sein dünnes Haar, geht so selbstverständlich wie möglich aus dem Zimmer und versucht zu ignorieren, dass ihre Nerven zum Zerreißen gespannt sind. Derk hat sich nicht bewegt. Draußen spürt sie seinen Blick, als sie hastig – um nicht allzu nass zu werden – die Straße überquert und auf die Bushaltestelle zuläuft.
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