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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien
Autoren: John Updike
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ohne Schmerzen. Die primitiven Völker waren weise genug, den Schmerz ins Zentrum ihrer Einweihungsriten zu rücken. Also gut, meine Liebe, du bist nun eingeweiht. Du bist zum Strand gegangen und hast dir dort ein Werkzeug aufgelesen, mit dem du dich selbst verstümmeln konntest. Du bist, durch dieses lebendige Werkzeug, zu einer Frau geworden. Du hast es hinter meinem Rücken getan, und das war wohlüberlegt und angemessen. Aber eine längere Beziehung würde sich nicht hinter meinem Rücken abspielen, sondern vor meinen Augen, vor den Augen der Gesellschaft und vor den Augen deines exponierten Vaters. Ja sogar, falls du irgend etwas von dem glaubst, was dir die Nonnen erzählen, vor den Augen deiner lieben Mutter, unserer teuren, verblichenen Cordélia, die unter Tränen vom Himmel auf dich herunterblickt.»
    Isabel rutschte auf dem üppigen, karmesinroten Sofa hin und her, was den feingerippten Samtbezug unter ihren Schenkeln raunen ließ. Sie drückte ihren Zigarettenstummel aus. Sie haßte die Vorstellung, daß ihre Mutter hinter ihr herspionierte. Sie wollte keine andere Frau in ihrem Leben. Ihre Mutter war bei dem Versuch gestorben, ihr einen Bruder in die Welt zu setzen: Isabel hatte ihr diesen doppelten Verrat niemals verziehen, auch wenn sie oft vor dem Spiegel stand und Fotos ihrer Mutter – alle durch ihren Tod unscharf und nebelhaft geworden – mit ihrem eigenen Gesicht verglich. Ihre Mutter war dunkler gewesen als sie selbst, viel Brasilianischer in ihrer Schönheit. Isabels blondes Haar war ein väterliches Erbteil, von der Seite der Lemes.
    «Also», kam Onkel Donaciano zum Schluß: «Du wirst dich mit diesem moleque nicht mehr treffen. Nach dem Karneval wirst du dein Studium an der Universität aufnehmen, an unserer illustren Pontificia Universidade Católica do Rio de Janeiro. Während deines Aufenthalts an diesem Institut wirst du, dessen bin ich sicher, von den modischen linken Hirngespinsten infiziert werden, wirst an Protestaktionen gegen unsere Regierung teilnehmen, eine Bodenreform fordern oder ein Ende des Völkermords an den Amazonasindianern; und im Zuge dieser engagierten Donquichotterien verliebst du dich vielleicht in einen anderen Protestler, der nach dem Abschluß seiner Studien, allen jugendlichen Skrupeln zum Trotz, einen hohen Rang im Berufsleben einnehmen und vielleicht sogar ein Mitglied der Regierung werden wird, der es die Militärs zu diesem Zeitpunkt womöglich schon gestatten, sich wieder als zivile zu gebärden. Oder – unterbrich mich noch nicht, meine Liebe; ich weiß, mit welchem Argwohn deine Generation Vernunftehen betrachtet, aber glaube mir: Vernunft besteht, wenn die Leidenschaft geht – du entschließt dich, selbst eine Rechtsanwältin, eine Ärztin, eine leitende Angestellte bei Petrobras zu werden. Solche Möglichkeiten gibt es heute für Frauen in Brasilien, wenn auch widerwillig gewährt. Noch immer müssen Frauen gegen die Vorstellung unserer würdigen Vorväter ankämpfen, sie wären nur zum Zweck von Zucht und Zierde auf der Welt. Dessenungeachtet steht dir, wenn du nur auf Mutterschaft und die traditionellen Freuden des Nestbaus zu verzichten bereit bist, die Teilnahme am Spiel um die Macht offen. Aber glaube mir, herzliebste Nichte, das ist ein langweiliges Spiel, sobald man die Regeln beherrscht und seine ersten Züge gemacht hat.»
    Er seufzte; wie immer bei Onkel Donaciano begann die Langeweile, alle Energie aus seinen Worten zu saugen. Nach einer Viertelstunde langweilte ihn einfach alles. Und auf diese Weise, sagte Isabel zu sich selbst, schaffen wir ihn uns vom Hals. Die Jugend läßt sich nicht so schnell langweilen.
    Doch er war wiederbelebt worden von einer neuen Idee: «Oder – jetzt kommt mir ein Gedanke, der mich, ehrlich gesagt, ganz neidisch macht – warum gehst du nicht ins Ausland? Warum sollen wir uns auf diesem immer kleiner werdenden Erdball auf Brasilien beschränken, mit seiner abscheulichen Geschichte, seinen dumpfen, schmuddeligen Massen, seiner ewigen Rückständigkeit, seinem Sambawahn am Rand des Chaos? Wir sind nicht nur Brasilianer – wir sind Kinder des Planeten! Geh nach Paris und lebe unter den Fittichen deiner Tante Luna! Oder, falls dir das zu sehr nach familiärer Enge schmeckt, gönn dir ein Jahr in London oder in Rom oder meinethalben sogar im verkommenen alten Lissabon, wo sie Portugiesisch so schnell sprechen, daß du kein Wort verstehst! In San Francisco, hab ich in den Zeitungen gelesen, ist etwas an der Macht,
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