Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel

Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel

Titel: Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
Autoren: Klaus Wanninger
Vom Netzwerk:
Ann-Katrin und er als Eltern – das schien bisher noch ein vager Gedanke abseits jeder vorstellbaren Realität. Ein Kind in diese von so unendlich viel Leid und Elend verseuchte Welt zu setzen – vor kurzer Zeit noch hätte er diese Überlegung als abnormales Hirngespinst abgetan. Dem Dreck, dem Morast, diesem unübersehbaren Ausmaß an Niedertracht und Intrigen, dem er Tag für Tag bei seinen Ermittlungen ausgesetzt war, den verkommenen, hinterhältigen Existenzen, mit denen er es unaufhörlich zu tun hatte, ein junges, schutzloses Wesen auszuliefern? War nicht allein die Idee schon ein unverantwortliches Unterfangen?
    Nein, man vertraute dieser Welt keine kleinen Kinder an, nicht, wenn man einen Beruf ausübte, der Tag für Tag dafür sorgte, dass einem die Realität unverhüllt, ohne jeden Schleier präsentiert wurde. Ein Beruf, der die angebliche Friedfertigkeit dieser Gesellschaft, die scheinheilige Sanftmut und Freundlichkeit vieler ihrer Mitglieder allzu oft ihrer verlogenen Fassade beraubte und den irrationalen Bedeutungswahn, die dämonische Machtbesessenheit und unersättliche Raffgier selbst in den Reihen ihrer wichtigsten Repräsentanten schonungslos offenlegte. Unerbittliche Rücksichtslosigkeit und grenzenlose Egomanie waren die dominierenden Kräfte dieses Universums – das hatte er in den vergangenen Jahren bis zum Überdruss gelernt. Wie um alles in der Welt konnten sie da auf die Idee kommen, ein neues Menschlein in diesen verfaulten Morast zu setzen?
    Theresa Räuber, die Schwester seiner Lebensgefährtin, war die Erste, mit der sie sich über ihre Bedenken unterhalten hatten. Einen ganzen Abend lang waren sie damit beschäftigt gewesen, das Für und Wider ihres geplanten Familienzuwachses auszuloten.
    »Ob ihr gut daran tut, ein Kind in diese Welt zu setzen? Die Frage ist legitim, ja notwendig«, hatte die Pfarrerin zugegeben. »Du musst nur die Nachrichten eines beliebigen Tages verfolgen und schon liegt die Frage dir auf der Zunge. Katastrophen, Anschläge, Unfälle. Nur unsensiblen, jedem Mitgefühl für andere völlig abholden Existenzen wird sie absonderlich erscheinen.«
    Sie hatten sich in ihrer Wohnung am Rand der Stuttgarter Innenstadt, wo Theresa seit zwei Jahren eine Kirchengemeinde betreute, getroffen. Theresa Räuber war lange Zeit als Managerin für den Daimler-Konzern tätig gewesen, hatte sich mit Anfang dreißig dazu entschlossen, auf die Fortsetzung ihrer Karriere zu verzichten und stattdessen Theologie zu studieren. Sinn vermitteln und Menschen in Not helfen statt Luxuskarossen anzubeten, war sie deutlich geworden, die beste Entscheidung meines Lebens.
    Sie hatte auf Ann-Katrins Wunsch hin einen Tee gekocht, ihn heiß serviert.
    »Trotzdem stellt sich kaum jemand dieser Frage, weichen fast alle vor ihr aus«, war sie erneut auf das Thema eingegangen, »und ich denke, ich weiß, weshalb.«
    Sie hatte einen Schluck Orangensaft in den Tee gegeben, dann von der aromatisch duftenden Flüssigkeit getrunken.
    »Die meisten haben Angst, keine akzeptable Antwort zu finden. Umso mehr ehrt es euch, dass ihr euch dem Problem stellt. Aber das ist bei dieser Berufswahl wohl nicht besonders überraschend.«
    Nein, hatte Braig überlegt, das war es wirklich nicht. Wie viele Leichen hatte er in den letzten Jahren begutachten, wie viele verunstaltete kindliche und jugendliche Körper bis ins Detail untersuchen müssen? Hundert, hundertfünfzig, zweihundert? Er wusste es nicht, hatte sie nicht gezählt, wagte es nicht einmal, eine ernsthafte Schätzung zu riskieren. Irgendwo in diesem Bereich, sofern er sich nicht gewaltig täuschte. Und jetzt ein Kind?
    »Ich möchte euch trotzdem bitten, nicht vorschnell bei einer übereilten Antwort Zuflucht zu suchen, sondern: Gab es in der Geschichte der Menschheit jemals eine Zeit, in der man diese Frage vorbehaltlos, ohne jedes Wenn und Aber hätte bejahen können?«
    Braig hatte es sofort begriffen. Es bedurfte keiner langwierigen Philosophiererei, darauf eine Antwort zu finden. Eine Zeit, in der Menschen ohne Angst und ohne Bedenken ein Kind in diese Welt hatten setzen können? Nein, so weit zurückzudenken man sich auch bemühte, eindeutig nein. Seit es Menschen auf diesem Erdball gab, herrschten Mord und Totschlag, Kriege und Verfolgungen. Nie, zu keinem Zeitpunkt der Geschichte, konnte es einer Mutter leicht gefallen sein, ihr Kind dieser Realität anzuvertrauen. Und doch hatten es Millionen von Frauen immer und immer wieder gewagt …
    »Du kennst
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher