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Blutsauger

Blutsauger

Titel: Blutsauger
Autoren: M Bomm
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verletzt war als die Wartenden, wurde vorgezogen. Zwar war die gläserne Pförtnerloge im Eingangsbereich der Klinik rund um die Uhr besetzt, doch mussten sich die Patienten selbst in der Ambulanz anmelden, die nur zwei Flurwindungen entfernt untergebracht war. Nachts jedoch, wenn dort hinter der großen Glasscheibe niemand saß, verwies ein Zettel auf einen Klingelknopf, der im Behandlungszimmer ein akustisches Signal auslöste. Dann eilte Ambulanzschwester Brigitte nach vorn, um die Personalien neuer Patienten aufzunehmen – soweit diese überhaupt in der Lage waren, sie ordnungsgemäß anzugeben. Hin und wieder kam es vor, dass manch einer weder seine Krankenversicherung noch die Anschrift korrekt nennen konnte.
    Zum nächtlichen Ambulanzteam gehörte eine Röntgenassistentin, die ein Stück hinter Salbaisis Behandlungszimmer, schräg überm Flur, ihr eigenes Reich hatte. In Nächten wie diesen war sie pausenlos im Einsatz. Denn wann immer jemand über Knochenschmerzen klagte, sei es im Brustbereich oder an den Armen oder Beinen, ordnete Salbaisi eine Röntgenaufnahme an. Er tat dies auch dann, wenn eine Knochenverletzung eher unwahrscheinlich erschien. Sicher war sicher. Er wollte sich später nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, einen Patienten allzu nachlässig untersucht zu haben. Dass er manchmal Zweifel an den geschilderten Schmerzen hegte, lag an den Simulanten, die aus reiner Wichtigtuerei nachts in der Ambulanz auftauchten. In jüngster Zeit war häufig ein junges Mädchen in Begleitung der Eltern erschienen, zuletzt sogar im Rollstuhl, in den sie angesichts ihrer angeblichen Schmerzen an der Pforte gesetzt worden war. Nachdem Salbaisi wieder einmal keine ernste Verletzung diagnostizieren konnte, hatte er die junge Dame in einer seiner seltenen energischen Momente angeherrscht: »Sie stehen jetzt auf!« Nach kurzem Zögern war die Angesprochene aufgestanden und hatte, völlig eingeschüchtert, auf eigenen Beinen den Behandlungsraum verlassen. Wenn Salbaisi diese Szene mit der wundersamen Heilung im Bekanntenkreis schilderte, fühlten sich die Zuhörer meist an biblische Geschehnisse erinnert.
    Jetzt stand eine Dame mittleren Alters vor ihm, gestützt auf zwei Krücken, die sie an der Pforte erhalten hatte. Salbaisi blickte in ein schmerzverzerrtes Gesicht, in dem üppige Schminkfarbe mit Schweiß und Wasser verlaufen war.
    »Helau«, lächelte der sympathische Ambulanzarzt und spielte auf das Kostüm der Patientin an: Sie trug ein dunkelblaues, knielanges und mit goldenen Verzierungen ausgeschmücktes Engelsgewand, hatte in den regennassen Haaren eine Art Heiligenschein stecken und war mit Konfetti behaftet.
    Der Arzt griff zur Begrüßung symbolisch nach ihrer rechten Hand, die eine Krücke umklammert hielt. »Helau in der Ambulanz«, sagte er, »oder soll ich lieber Halleluja sagen?«
    Schon war das Eis gebrochen. Sie ließ ein gequältes Lächeln erkennen. Ihr männlicher Begleiter, der hinter ihr ins Zimmer gekommen war, verzog keine Miene und schwieg verlegen. Er schien sich in seiner Verkleidung als Teufel nicht sonderlich wohl zu fühlen: Schwarzes T-Shirt mit weißem Totenkopf auf der Brust, schwarze Hose mit rosarotem Besatz züngelnder Flammen.
    Salbaisi und seine Ambulanzschwester halfen der Frau auf die Untersuchungsliege, während der Mann unschlüssig daneben stand und die Krücken hielt. Im grellen, hellen Licht der Leuchtstoffröhren wirkte sein Gesicht blass. Der Arzt schätzte das Paar auf Ende 30. Er entfernte sich zu seinem kleinen Schreibtisch und griff sich den Computerausdruck, der die persönlichen Daten enthielt, die Schwester Brigitte zuvor bei der Anmeldung aufgenommen hatte. Beim Blick auf das Geburtsdatum der Frau fühlte sich Salbaisi bestätigt. Sie war 38, wohnte im benachbarten Bad Überkingen und war bei der Betriebskrankenkasse der WMF versichert. »Wo tut’s denn genau weh?«, fragte er, als er wieder zu ihr herüberkam.
    »Da.« Die Frau deutete auf ihren rechten Fußknöchel und zog sich vorsichtig den Schuh aus.
    Salbaisi bückte sich, strich über das angeschwollene Sprunggelenk und drückte sanft, um den Grad der Schmerzhaftigkeit zu testen. Die Frau hielt für einen Augenblick die Luft an.
    »Wir machen eine Aufnahme«, entschied er, um gleich beruhigend hinzuzufügen: »Ich glaube aber nicht, dass es sich um eine Fraktur handelt.«
    »Knochenbruch«, ergänzte Schwester Brigitte, die aus ihrer langjährigen Berufspraxis wusste, dass sich Patienten mit
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