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Blutnacht

Blutnacht

Titel: Blutnacht
Autoren: Jonathan Kellerman
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begonnen, war das einzige Kind von zwei Professoren an der Emory University in Atlanta gewesen. Zehn Jahre als Wunderkind auf Geige und Cello waren zu Ende gegangen, als der rebellische Teenager die Gitarre für sich entdeckte und mit dem Greyhound nach Chicago fuhr, wo er mit einem völlig neuen Lebensstil konfrontiert wurde: Er wohnte auf der Straße und in Notunterkünften, spielte mit der Butterfield Blues Band, Albert Lee, B. B. King und jedem anderen Genie, das zufällig vorbeikam. Entwickelte seine Technik und nahm schlechte Angewohnheiten an.
    Die älteren Musiker erkannten die Begabung des pummeligen Jungen sofort, und einer von ihnen gab ihm den Spitznamen, der hängen blieb.
    Baby Boy verbrachte zwei Jahrzehnte damit, seinen Lebensunterhalt als Sessionmusiker oder als Lead-Gitarrist einer Bar-Band zusammenzukratzen, ertrug große Versprechungen, die im Sande verliefen, nahm Platten auf, die in der Versenkung verschwanden, und landete schließlich einen Top-40-Hit mit einer Südstaaten-Band namens Junior Biscuit. Der Song, den der große Mann geschrieben, gesungen und mit Gitarrenriffs versehen hatte, war eine herzzerreißende Klage mit dem Titel »A Cold Heart« – genau dasselbe Lied, das Baby Boy wenige Augenblicke vor seinem Tod gespielt hatte.
    Der Song schaffte es auf Platz 19 der Billboard Top 100, blieb einen Monat in den Charts. Baby Boy kaufte sich ein schönes Auto, jede Menge Gitarren und ein Haus in Nashville. Innerhalb eines Jahres war das ganze Geld verschwunden, da Lee mehr Geld für Frauen, gutes Essen und verschiedene Drogen ausgab als je zuvor. Die nächsten Jahre bestanden aus einer verschwommenen Abfolge fruchtloser Rehabilitationsversuche. Dann: Vergessenheit.
    Keine Verwandten riefen an, um sich nach ihm zu erkundigen. Lees Eltern waren beide tot, er hatte nie geheiratet oder ein Kind gezeugt. Das, der Himmel steh ihr bei, war der Grund dafür, dass er ihr sehr am Herzen lag, und das Bild seiner Leiche wich nicht aus ihrem Kopf.
    Die üblichen verfahrenstechnischen Schritte waren: Baby Boys Wohnung mit Klebestreifen absichern zu lassen, bevor sie vorbeischaute, um sie persönlich in Augenschein zu nehmen; Baby Boys Bandkollegen, seinen Manager, den Inhaber des Snake Pit, Rausschmeißer und Barkeeper und Cocktailkellnerinnen und die wenigen Gäste zu befragen, die geblieben waren, um am Tatort Maulaffen feilzuhalten, und deren Namen auf einer Liste gelandet waren.
    Niemand hatte eine Idee, wer Baby Boy etwas hätte antun wollen. Jeder mochte Baby Boy, er war ein großer, dicker Junge, naiv, gutmütig, würde einem sein letztes Hemd geben – seine letzte Gitarre, ja, sogar die.
    Der Höhepunkt des üblichen Verfahrens war eine Stunde in einem kleinen, engen Vernehmungszimmer in Gesellschaft des Hauptzeugen Linus Brophy.
    Sobald Petra gehört hatte, dass es einen Augenzeugen gab, waren ihre Hoffnungen gestiegen. Dann hatte sie mit dem Obdachlosen geredet und festgestellt, dass sein Bericht so gut wie wertlos war.
    Brophys Beschreibung lief darauf hinaus, dass es sich um einen hoch gewachsenen Mann handelte.
    Alter? Keine Ahnung.
    Hautfarbe? Keine Ahnung.
    Kleidung? Keinen Schimmer.
    Es war richtig dunkel, Detective Lady.
    Als wäre das nicht genug, sie für Brophy einzunehmen, hatte der Penner einen Medienfimmel, belästigte sie unaufhörlich, weil er wissen wollte, ob jemand vom Fernsehen mit ihm reden würde. Petra fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis Brophy ein Drehbuch zu verkaufen versuchte. Seine Geschichte an die Boulevardpresse verhökerte:
    ICH SAH ZU, WIE AUSSERIRDISCHE BABY BOY LEE ERMORDETEN.
    Das einzige Problem war, dass die Boulevardblätter absolut kein Interesse hatten. Weil Baby Boy trotz seines Comeback-Versuchs kein Prominenter war. Seit dem Hit mit Junior Biscuit waren achtzehn Jahre vergangen, und im Zeitalter von Rock als Porno war Lee genau das, was MTV nicht wollte.
    Die Gaffer vom Tatort sprachen Bände. Es handelte sich ausschließlich um Kids, die jung genug waren, um Baby Boys Sprösslinge zu sein, und jeder Einzelne von ihnen bewunderte ihn nur aufgrund einer Tatsache: Im vergangenen Jahr hatte Baby Boy eine Band von Zwanzigjährigen namens Tic 439 bei Plattenaufnahmen auf der Gitarre begleitet, und die CD hatte es bis zu Platin gebracht und die Hoffnungen des großen Mannes auf ein Comeback beflügelt.
    Dennoch fragte sich Petra, ob Baby Boy nicht eine Menge Bares mit dem Hit gemacht hatte – viel Geld war immer ein gutes Motiv. Aber diese
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