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Blutmale

Blutmale

Titel: Blutmale
Autoren: Tess Gerritsen
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erwiderte Jane.
    »Das ist eine Bezeichnung, die sehr gelehrt und beruhi gend klingt. Man hängt dem Täter irgendeine psychiatrische Diagnose an und erklärt damit das Unerklärliche. Aber es gibt Taten, die sind so furchtbar, dass man sie nicht erklären kann . Man kann sie nicht einmal begreifen.« Er machte eine Pause. »Graham Young inspirierte eine andere jugendliche Mörderin. Ein sechzehnjähriges japanisches Mädchen, das ich letztes Jahr befragt habe. Sie hatte Graham Youngs veröffentlichtes Tagebuch gelesen und war von seinen Verbrechen so inspiriert, dass sie beschloss, ihm nachzueifern. Zunächst tötete sie nur Tiere. Zerlegte sie und spielte mit den Körperteilen. Sie führte ein Weblog, in dem sie detailliert beschrieb, was es für ein Gefühl war, ein Messer in lebendiges Fleisch zu senken. Die Wärme des Blutes zu spüren, das letzte Zittern der sterbenden Kreatur. Dann ging sie dazu über, Menschen zu töten. Sie vergiftete ihre Mutter mit Thallium und notierte in ihrem Tagebuch all die qualvollen Symptome, an denen die Mutter litt.« Er lehnte sich zurück, jedoch ohne den Blick von Jane zu wenden. »Würden Sie dieses Mädchen auch schlicht als Soziopathin bezeichnen?«
    »Und Sie würden sie als Dämonin bezeichnen?«
    »Es gibt kein anderes Wort für das, was sie ist. Oder ein Mann wie Dominic Saul. Wir wissen, dass sie existieren.« Er wandte sich ab und starrte ins Feuer. »Das Problem ist«, sagte er leise, »dass sie auch von unserer Existenz zu wissen scheinen.«
    »Haben Sie je vom Buch Henoch gehört, Detective?«, fragte Edwina, während sie ihnen nachschenkte.
    »Sie haben es schon einmal erwähnt.«
    »Es fand sich unter den Schriftrollen von Qumran. Das Buch Henoch ist ein sehr alter Text, aus vorchristlicher Zeit; ein Teil der apokryphen Literatur. Darin wird die Zerstörung der Welt vorhergesagt. Es wird berichtet, dass die Erde von einer fremdartigen Rasse heimgesucht wird, den sogenannten Wächtern, die uns Menschen die Herstellung von Schwertern, Messern und Schilden gelehrt haben. Sie haben uns die Instrumente unserer eigenen Vernichtung an die Hand gegeben. Schon in ältester Zeit wussten die Menschen offenbar von diesen Wesen und erkannten, dass sie anders waren als wir.«
    »Die Söhne des Seth«, sagte Lily leise. »Die Abkömmlinge von Adams drittem Sohn.«
    Edwina sah sie erstaunt an. »Sie wissen davon?«
    »Ich weiß, dass sie viele Namen haben.«
    »Ich habe nie gehört, dass Adam einen dritten Sohn hatte«, sagte Jane.
    »Er wird sogar in der Genesis erwähnt, aber die Kirche kehrt so vieles unter den Teppich, was ihr nicht passt«, sagte Edwina. »So viele historische Fakten sind lange unterdrückt und zensiert worden. Erst jetzt, nach zweitausend Jahren, können wir endlich das Judasevangelium lesen.«
    »Und diese Abkömmlinge des Seth - das sind die Wächter?«
    »Man hat ihnen so viele Namen gegeben im Lauf der Jahrhunderte. Die Elohim, die Nephilim. In Ägypten die Shemsu Hor. Was wir wissen, ist, dass ihr Stammbaum sehr weit zurückreicht und dass sie ursprünglich von der Levante stammen.«
    »Die Levante?«
    »Das Heilige Land. Das Buch Henoch sagt uns, dass wir irgendwann den Kampf gegen sie aufnehmen müssen, wenn wir selbst überleben wollen. Und wir werden schreckliche Not leiden, während sie morden, unterdrücken und zerstören.« Edwina unterbrach sich, um Janes Glas aufzufüllen. »Am Ende wird sich dann alles entscheiden. Es wird zur letzten Schlacht kommen. Der Apokalypse.« Sie sah Jane an. »Ob Sie es glauben oder nicht, der Sturm braut sich schon zusammen.«
    Die Flammen schienen vor Janes müden Augen zu verschwimmen. Und für einen kurzen Moment glaubte sie ein loderndes Inferno vor sich zu sehen, das alles verschlang. Das ist also die Welt, in der ihr lebt , dachte sie. Eine Welt, die mir fremd ist.
    Sie wandte sich an Maura. »Bitte sag mir, dass du das nicht glaubst, Doc.«
    Aber Maura trank nur ihr Glas aus und stand auf. »Ich bin todmüde«, sagte sie. »Ich gehe ins Bett.«

37
    Irgendjemand klopfte an die Pforte von Lilys Bewusstsein, forderte Einlass in die geheime Landschaft ihrer Träume. Sie erwachte im Dunkeln und geriet für einen Moment in Panik, da nichts ihr vertraut schien. Dann sah sie das Mondlicht, das ins Zimmer fiel, und sie wusste wieder, wo sie war. Sie blickte zum Fenster hinaus auf eine verblüffend helle Schneedecke. Der Sturm hatte sich verzogen, und der Mond schien jetzt auf eine reine weiße Welt, still und
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