Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder
Autoren: Nevada Barr
Vom Netzwerk:
mit einem Blitzlicht zu fotografieren. Pop, pop, pop. Er ist Fotos gewöhnt, aber wahrscheinlich lag es an der Dunkelheit, und er war ja schon ziemlich gereizt, keine Ahnung. Vielleicht ist er geblendet worden oder so. Jedenfalls hat er gebrüllt und ist auf den Hinterbeinen auf sie zugegangen. Inzwischen war mir klar, dass mit Balth etwas nicht stimmte. Also bin ich rausgesprungen und habe wie wild geschrien und gepfiffen. Die Frau hat weiter fotografiert und ist immer näher an ihn ran. Ich habe gerufen, sie und Balth sollen stehen bleiben, doch niemand hat auf mich gehört. Balth wollte sich auf sie stürzen. Da hat sie eine kleine Dose mit dem Zeug rausgeholt, wie Sie es hatten.«
    Geoffrey wies mit dem Kopf auf Anna.
    »Sie hat ihn damit angesprüht, und da ist er ausgeflippt und hat ausgeholt. Ihr Kopf wurde zur Seite geschleudert. Ganz weit. Oh, mein Gott.«
    Seine Hände glitten aus dem Haar, an dem er beim Reden gezerrt hatte, wieder über sein Gesicht.
    Das Rätsel, was so weich war, dass es die Haut nicht verletzt hatte, und dennoch heftig genug geschwungen werden konnte, um einer Frau das Rückenmark zu durchtrennen, war gelöst.
    »Aber ihr Gesicht war abgeschnitten …«, begann Rory.
    Geoffrey fing an, lautlos zu weinen. Die Tränen quollen ihm durch die Finger und hinterließen in dem Schmutz auf seinen Handrücken helle Spuren.
    Anna brachte Rory mit einer Handbewegung zum Schweigen, während Joan ihm das Knie tätschelte, um ihm zu zeigen, dass sie es nicht so unfreundlich gemeint hatte.
    »Balthazars Krallen hatten Kratzspuren auf ihrem Gesicht hinterlassen«, stellte Anna fest.
    Geoffrey nickte. »Sie hätten sicher nach einem Killerbären gesucht und uns gefunden.«
    Eine Weile saß Anna da und trank ihren kalt gewordenen Tee. Ein fünfzehnjähriger Junge schleppte eine Leiche in ein Versteck und verstümmelte ihr, vermutlich mit einem Taschenmesser, das Gesicht. Wahrscheinlich weinend, so wie er nun wegen der Erinnerung Tränen vergoss. Sie bezweifelte, dass Timmy nur halb so viel für Lassie getan hätte.
    »Und danach hast du die … äh … zerkratzten Stücke in den Baum gehängt.«
    »Ich wollte nicht, dass jemand sie sieht, denn dann hätten Sie gewusst, was passiert ist. Aber ich hatte Angst, ein Bär könnte sie ausbuddeln, wenn ich sie vergrabe. Er wäre dadurch möglicherweise auf den Geschmack gekommen und hätte sich in Schwierigkeiten gebracht.«
    Geoffreys Tränen versiegten. Anna hatte den Verdacht, dass er während der Jahre in Fetterman’s Abenteuerwelt schon viel über Leben und Tod gelernt hatte und den von Carolyn verkraften würde. Er rieb sich das Gesicht, bis die Tränen verschmiert waren.
    »Du hast ihre Wasserflasche und den Film mitgenommen«, merkte Anna an. »Das mit dem Film verstehe ich ja. Aber warum die Wasserflasche?«
    »Das wollte ich eigentlich nicht. Doch sie war auf dem Pfad aus ihrem Rucksack gefallen. Anschließend habe ich sie gefunden. Ich wollte nicht … noch einmal zurück. Also habe ich sie eingesteckt. Später habe ich ihn – dich, Rory – gesehen, und weil ich wusste, dass du losgelaufen warst, ohne eine Flasche mitzunehmen, habe ich dir etwas zu trinken hingestellt.«
    »Du hast mein Sweatshirt geklaut«, stellte Rory fest, klang aber nicht verärgert, sondern eher, als fühle er sich geehrt.
    »Entschuldige«, erwiderte Geoffrey. »Mein Hemd war schmutzig und voller Blut. Außerdem hatte ich es zerrissen, weil ich ein Seil brauchte, um den Sack mit dem … du weißt schon … aufzuhängen. Ich habe befürchtet, dass Leute sich an mich erinnern könnten, wenn sie mich ohne Hemd sehen.«
    »Mir hast du auch Wasser hinterlassen«, sagte Anna. »Oben auf dem Cathedral Peak, nachdem unser Mr McCaskil hier versucht hat, mich umzubringen.«
    Geoffrey nickte. »Ich habe gelesen, dass ein Mensch zwar lange ohne Essen überleben kann, allerdings nicht ohne Wasser. Das mit der Flasche tut mir leid. Balthazar hat damit gespielt. Wir kaufen Ihnen eine neue.«
    Als er Anna über den aufwärtsgerichteten Lichtstrahl anblickte, waren seine klaren haselnussbraunen Augen so alt wie Stein.
    »Was passiert jetzt mit Balthazar?«, fragte er.
    »Nichts Schlimmes«, versprach Anna.
    »Hah«, höhnte McCaskil.
    »Nichts Schlimmes«, wiederholte sie. »Das schwöre ich beim wertlosen Leben unseres Gefangenen.«

24
    Wenn Anna sich später an jene Nacht erinnerte, dann mit demselben seltsamen und traumähnlichen Wirklichkeitsempfinden, mit dem sie auch an ihre Kindheit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher