Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutiges Echo (German Edition)

Blutiges Echo (German Edition)

Titel: Blutiges Echo (German Edition)
Autoren: Joe R. Lansdale
Vom Netzwerk:
schaltete zu den Nachrichten um, aber es kamen nur schlechte Neuigkeiten über Krieg und sterbende Leute oder Mord oder Geschrei oder Prügeleien. Er fand ein paar Spielfilme, doch die waren so gewalttätig, dass er irgendwie die Handlung aus den Augen verlor.
    Er saß einfach nur da, zappte durch die Kanäle und dachte an Kayla. Er hatte sie am nächsten Tag besuchen wollen, am Tag nach dem Kuss, aber es war niemand zu Hause gewesen; und als er am darauffolgenden Nachmittag wieder hinging, waren sie fort. Das Haus war so leer wie das Wahlversprechen eines Politikers.
    Aber seine Erinnerung an den Kuss war so frisch, als wäre es gestern gewesen – wie sie seine Hand gehalten hatte, wie sich ihre Haut angefühlt hatte, als sie ihn berührte. Dieser scharfe Geruch ihres Parfüms in seiner Nase.
    Puzzleteile, die getrennt wurden. Das Muster, das unterbrochen wurde. Das Puzzle war verpatzt.
    »Da hol mich doch der Teufel«, rief sein Vater. »Schau dir das mal an!«
    Harry drehte sich um, während seine Mutter mit einem Geschirrtuch in der Hand aus der Küche kam. »Fluch doch nicht so«, sagte sie.
    »Hier, das da«, sagte Dad und tippte mit dem Finger auf die Zeitung, die auf dem Esstisch lag. »Was steht da?«
    Harry wusste, dass sein Vater sich ein paar Wörter angeeignet hatte, aber nicht gut genug lesen konnte, um den ganzen Artikel zu verstehen. Zu viel Schule verpasst. Wenn er es versuchte, verdrehte er irgendwie immer die Buchstaben. Deswegen hatte er Mom hergerufen.
    Sie fing an, ihm den Artikel vorzulesen. Harry stand auf, schlenderte hinüber und schob sich zwischen sie.
    Es war das Titelblatt der Regionalzeitung. Darauf prangte eine große Überschrift.
    Mörder von Lokalbesitzerin geständig
    Darunter folgte der Artikel, den Harry rasch überflog. Exmann gesteht, seine Frau, die Inhaberin von Rosy’s Roadhouse, getötet zu haben. Besaß einen Schlüssel. Wartete, bis das Gebäude leer war und die Inhaberin zumachte. Er war wütend wegen der Trennung. Ertrug es nicht, dass sie einen neuen Freund hatte.
    »Das ist doch das Honkytonk unten am Hügel«, stellte Harry fest.
    »Stimmt«, sagte Mom.
    Sie blätterte auf die nächste Seite, wo der Artikel fortgesetzt wurde. Dort waren zwei Fotos abgedruckt.
    Eins vom Opfer.
    Eins vom Mörder.
    Harry kannte sie beide. Oder vielmehr hatte er beide gesehen. Unten im Rosy’s . In der Nacht, als er sich mit Joey und Kayla hingeschlichen hatte. Und ohnmächtig geworden war.
    Er beugte sich vor und betrachtete das Bild des Mannes genauer. Das war er, keine Frage. Der Mann mit dem schwarzen Haar, den Narben und dem scharfen, gekrümmten Messer; der Kerl, der der Frau die Kehle aufgeschlitzt und sie gegen die Jukebox geschubst hatte. Harry erinnerte sich an das Licht und die Wärme, das Dudeln der Schallplatte. Das Gefühl der Enge. Für einen kurzen Moment kam alles wieder in ihm hoch.
    Dann betrachtete er das Foto der Frau. Sie sah besser aus als in jener Nacht – als sie ängstlich gewesen war, blutig aufgeschlitzt und schließlich tot. Doch sie war es, eindeutig.
    Sein Blick huschte über die Absätze, die seine Mutter seinem Vater vorlas.
    Durchgeschnittene Kehle.
    Gegen die Jukebox.
    Blut an der Wand.
    Mit einem Messer umgebracht.
    Harry trat einen Schritt zurück und dachte nicht länger an die Wärme und das Licht. Er hatte den Eindruck, als würde sein ganzes Wesen nach hinten kippen und in einen langen kalten Tunnel stürzen. Es war ein schreckliches Gefühl, und es drehte ihm den Magen um.
    »Ich hab gesehen, wie er es getan hat«, stieß Harry hervor.
    »Was?«, fragte seine Mom. »Was hast du gesagt?«
    »Ich hab ihn gesehen«, sagte Harry.
    »Diesen Kerl hier?«, fragte sein Dad und tippte auf das Foto.
    »Ja. Den hab ich gesehen.«
    »Wie zum Teufel willst du das gesehen haben?«, fragte Dad.
    »Im Traum.«
    Schweigen breitete sich aus, so groß und leer, dass ein Elefant hindurchspazieren konnte.
    »Im Traum?«, fragte Dad. »Du solltest dich ein bisschen ausruhen, mein Junge. Man träumt nicht von Leuten, die man nie gesehen hat. Das hast du in irgendeiner Fernsehsendung aufgeschnappt oder so, oder du hast es in einem dieser komischen Hefte gelesen, die du immer verschlingst.«
    »Wahrscheinlich kommt es dir nur so vor, als hättest du davon geträumt«, sagte Mom. »Du siehst sein Gesicht in der Zeitung gerade zum ersten Mal, und es kommt dir so vor, als hättest du ihn schon mal irgendwo gesehen. Vielleicht erinnert er dich an wen anders.«
    Harry
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher