Blutiger Spessart
Besprechungszimmer. Brunner hatte irgendwie den Eindruck, als wäre sein Freund plötzlich etwas gereizt. Er folgte ihm und setzte sich in eine der Zuschauerbänke. Die Verhandlung nahm ihren Fortgang.
Der Kriminalbeamte ertappte sich dabei, dass er Kerner genauer beobachtete. Das Gericht tagte angesichts der Schwere der angeklagten Tat als Schöffengericht. Das bedeutete, dass neben Kerner als Berufsrichter noch zwei ausgewählte Bürger als Schöffen, also als Laienrichter, fungierten. Kerner führte den Vorsitz souverän, so als würde er das Richteramt schon seit Jahren ausüben. Brunner konnte keinerlei Nervosität oder Konzentrationsschwäche bei ihm feststellen.
Nach eineinhalb Stunden hielten zuerst der Staatsanwalt und anschließend der Verteidiger ihr Plädoyer, dann zog sich das Gericht zur Beratung zurück. Eine halbe Stunde später kam das Schöffengericht aus der Beratung zurück und Kerner verlas das Urteil: 1 Jahr 9 Monate Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der Angeklagte nahm das Urteil an, die Verhandlung war beendet.
»Ich muss mich noch schnell umziehen«, erklärte Kerner, nachdem er die Schöffen verabschiedet hatte.
Sie betraten sein geräumiges Dienstzimmer. Er verstaute seine Richterrobe im Schrank und hängte die Krawatte daneben.
»Mit Bewährung ist der Bursche ganz gut weggekommen«, versuchte Brunner ein Gespräch. Er war jetzt ziemlich sicher, dass Kerner etwas verärgert war.
»Er war nicht vorbestraft«, entgegnete Kerner knapp, dann ging er zur Tür und verständigte seine Sekretärin, dass er heute Nachmittag zu Hause an seiner Rede für die Amtseinführung arbeiten würde. Er schloss wieder die Tür.
»Ich wäre dann so weit.« Er wies zum Ausgang.
Kerner fuhr vorneweg, Brunner im Dienstwagen hinterher. Während Kerner seinen Defender in die Garage lenkte, parkte Brunner vor dem Haus.
»Woher kommt denn dieser Hinweis?«, fragte Kerner, während sie hineingingen.
»Wie ich sagte, anonym, mit der Post. Du weißt ja, dass wir bei Straftaten auch solchen Hinweisen nachgehen müssen.«
»Kein Problem«, erwiderte Kerner und bat Brunner mit einer Handbewegung in sein Arbeitszimmer. Er öffnete seinen Waffenschrank und nahm ein schwarzes Gewehr mit Kunststoffschaft heraus.
»Hier ist das gute Stück. Tut mir einen Gefallen und geht sorgfältig damit um.« Dann griff er sich eine Schachtel mit Munition und händigte sie ihm ebenfalls aus. »Die Schachtel ist fast voll. Ich hoffe, das reicht.«
Brunner bedankte sich. »Tut mir leid, dass ich dir Umstände machen muss, aber …«
Kerner winkte ab. »Kein Problem, was sein muss, muss sein.«
Der Kriminalbeamte hatte nicht den Eindruck, dass Kerner nach einem Gespräch zumute war. Er händigte ihm noch eine Bescheinigung für die Übernahme der Waffe aus, dann verabschiedete er sich und ging.
Kerner sah durchs Fenster Brunners Fahrzeug davonfahren. Jetzt endlich konnte er seine Beherrschung fallen lassen. Er setzte sich auf die Couch in seinem Arbeitszimmer und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
Vermutlich war sein Spiel jetzt aus. Es war anzunehmen, dass ein Mitglied des Emolino-Klans, das ihm seinerzeit das Bild von der Patrone geschickt hatte, jetzt das Original an die Polizei gesandt hatte. Für ihn gab es keinen Zweifel: Die Waffentechniker konnten die Patronenhülse ohne Probleme seiner Waffe zuordnen. Dann war wohl alles vorbei. Er dachte an den Drohanruf. Es war gar nicht erforderlich, ihn zu ermorden. Wenn man seine berufliche und gesellschaftliche Existenz vernichtete, war er praktisch auch tot. Vielleicht war dies das Ziel?
Kerner fragte sich, warum er Brunner nicht gleich reinen Wein eingeschenkt hatte. Dann wäre die Sache wenigstens erledigt gewesen. Was jetzt ablief, war seine Demontage in Etappen. Brunner spielte das zwar als Routineuntersuchung herunter, aber Kerner wusste, wie das lief. Auch wenn Brunner das nicht sagte, so hatten sie wahrscheinlich auch das Projektil gefunden, das Ricardo getötet hatte. Damit war die Beweiskette wasserdicht, und Leugnen war sinnlos. Kerner ging zum Schrank und goss sich einen doppelten Cognac ein. Er schimpfte sich einen elenden Feigling und leerte das Glas mit einem Zug. Er nahm sich vor, morgen endlich mit Brunner zu sprechen. Einmal musste Schluss sein. Die Justiz würde ihn verurteilen und im Rahmen eines Disziplinarverfahrens aus dem Staatsdienst entfernen. Steffi würde sich schämen, mit einem solchen Menschen liiert zu sein, und ihm den
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