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Blut muss fließen

Blut muss fließen

Titel: Blut muss fließen
Autoren: Thomas Kuban
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feststellen, dass mir zu einer kompletten Videoausrüstung noch ein Kabel fehlte. Trotzdem reiste ich abends, wie eiligst geplant, nach Südwestdeutschland. Am nächsten Morgen fuhr ich vom Elektronikmarkt direkt zum Haareschneiden. Der altgediente Friseurmeister, der sich meiner annahm, konnte es nicht glauben, dass ich meine lockige Mähne komplett heruntermähen lassen wollte. In einem ersten Durchgang ließ er wenigstens acht Millimeter stehen. Das war mir jedoch zu haarig, im doppelten Sinne. Ich wollte wie ein Neonazi-Skinhead aussehen – vom wegrasierten Scheitel bis zur Springerstiefelsohle.
    Am Nachmittag war ich fertig verkabelt. Das winzige Objektiv linste zu einem Knopfloch meines schwarzen Lonsdale-Polohemdes – ein bei Neonazis sehr beliebtes Fabrikat – heraus, das mit seinen roten und weißen Streifen am Kragen die Farben der altdeutschen Flagge aufwies. Den untersten Knopf hatte ich abgeschnitten. Mangels Funkmodul hing das viel zu große Aufnahmegerät am Gürtel. Es war 15 Zentimeter lang, 9 Zentimeter breit und 3,5 Zentimeter hoch – die Bomberjacke bedeckte es. Aufgrund sperriger Adapterlösungen, die ich in der kurzen Vorbereitungszeit wählen musste, wurde ich zur wandelnden Kabeltrommel. Der klotzartige Batteriepack mit acht Mignonzellen war ebenfalls alles andere als optimal.
    Falls im Eingangsbereich auf Waffen gefilzt worden wäre, hätte ich umdrehen müssen. So weit, so schlecht – doch das Schlimmste war, dass die Kamera plötzlich kein Signal mehr abgab. Nach vergeblicher Ursachensuche brach ich verspätet und frustriert ins El | 26 | sass auf. Gerade noch rechtzeitig kam ich am Nazi-Treffpunkt, einem Supermarktparkplatz an, wo ein Pärchen Handzettel mit Wegbeschreibungen verteilte.
    Anschließend traf ich mich mit einem Kamerateam von Spiegel TV , das von außen drehen wollte. Die Kollegen überprüften meine Technik und entdeckten eine defekte Lötstelle in der Stromversorgung. Was dann folgte, war legendär: Gegen 21 Uhr suchten wir eine französische Gaststätte auf, um an eine Steckdose für den Lötkolben zu kommen, den das Team dabeihatte. In einem Nebenraum lieferten die Videofreaks hochprofessionelle Arbeit – die Reparatur gelang. Im Schein einer Taschenlampe verkabelten mich die Kollegen anschließend auf dem dunklen Wirtshausparkplatz. Dann konnte die Fahrt weitergehen.
    Gegen 22.30 Uhr kam ich endlich am Konzertort an. Und ich hatte Glück: Eine Nazi-Nachhut traf ebenfalls verspätet ein. Ich mischte mich unter die Kameraden, die der Szene-Security im Eingangsbereich sogar bekannt zu sein schienen. Auf diese Weise kam ich reibungslos rein. Eine verrückte Sache.
    Was ich drinnen aus den Boxen dröhnen hörte, ließ mich erschaudern: »Ich kenne deinen Namen, ich kenne dein Gesicht. Du bist die Faust nicht wert, die deine Nase bricht.« Diese Liedzeilen der Neonazi-Band »Noie Werte« richteten sich gegen Journalisten. Erstmals stand ich im tobenden Mob vor der Bühne, als vermeintlicher Nazi unter Nazis. Es war eine irre und letztendlich unbeschreibliche Situation: Ich feierte unerkannt mit Leuten, denen ich im Alltag aus dem Weg gehe – mit gewaltbereiten Rassisten.
    Das sprichwörtliche Bad in der Menge geriet zum Wechselbad der Gefühle. Die anfängliche Erleichterung, ohne Körperfilze durch den Eingang gekommen zu sein, wuchs teilweise zu einem Triumphgefühl an. Doch die Angst, entdeckt zu werden, meldete sich immer wieder zurück. Nach jedem Blickkontakt mit einem Skinhead stellte ich mir die Frage: »Schöpft er Verdacht?« Zu allem Übel baggerte mich auch noch ein betrunkenes Renee an, indem es mich mit einem Hüftschwung anrempelte und mich zum Tanzen aufforderte. Ich wandte mich daraufhin unwirsch ab, denn ich wollte auf keinen Fall Ärger mit einem möglichen Lebensgefährten | 27 | des Skingirls riskieren. Abgesehen davon wäre es Wahnsinn gewesen, mich samt Videoequipment in die aggressiv tanzende beziehungsweise tobende Menge zu stürzen. Selbst am Rande dieses Moshpit genannten Kampfgebiets vor der Bühne war mein Gerät einigen Erschütterungen ausgesetzt, weil Skinheads aus dem Pogokreis geschleudert wurden und ich nicht immer ausweichen konnte. Allgegenwärtig war die Sorge, ob die Technik funktionieren und die Kamera richtig ausgerichtet sein würde – zu Recht, wie sich später herausstellen sollte …
    Angesichts der technischen Schwierigkeiten im Vorfeld und der nervlichen Anspannung lief der Dreh gut. »Noie Werte« mit
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