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Blut muss fließen

Blut muss fließen

Titel: Blut muss fließen
Autoren: Thomas Kuban
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und Melodien haben geholfen, für ein paar Stunden lang wie ein anderer Mensch zu wirken – Zeitabschnitte, in denen es mir gelang, mich wie ein Nazi zu verhalten. Dazu gehörten ausländerfeindliche und staatskritische Äußerungen im Smalltalk, ein meist mürrischer Gesichtsausdruck und die Begeisterung, wenn die Hassparty tobte – aber nie ein Hitlergruß. Wer wie ich die Liedtexte auswendig mitsingt, muss keine strafbaren Handlungen begehen, um nicht aufzufallen. Im Laufe der Zeit wurde ich sogar zum Oldschool-Skinhead, der jungen Kameraden »von früher« erzählen konnte. Was ursprünglich als einmalige Aktion geplant war, entwickelte sich für mich zu einem zweiten Leben – ich lebte als (Video-) Kamerad mit und in der Neonazi-Szene.
    Diese Arbeit kostete mich einen sechsstelligen Euro-Betrag und mein Privatleben. Ich hatte keine Zeit mehr für Kinobesuche, Grillfeste und Hobbys, die ganzen Jahre über. Einen Freundeskreis zu pflegen, wäre auch unter Sicherheitsaspekten zu riskant gewesen. Ich wäre gefragt worden, was ich an den Wochenenden gemacht habe, an denen ich mit den Nazis unterwegs war … Die »Kameradschaft« im Beruf verdammte mich privat zum Einzelgänger. Hätte ich über die Belastung und meine unermessliche Frustration, die insbesondere durch unzählige und inhaltlich absurde Themenabsagen von Fernsehredaktionen entstanden ist, nicht immer wieder mit meinen engsten Familienangehörigen sowie einzelnen Kolleginnen und Kollegen reden können, wäre ich bei diesem Rechercheprojekt mental gescheitert – wirtschaftlich bin ich es.
    Dass dieses Buch nun erscheinen kann und der Filmemacher Peter Ohlendorf einen gleichnamigen Dokumentarfilm über meine Arbeit gemacht hat, bringt mein bisheriges Lebenswerk immerhin zu einem inhaltlich befriedigenden Abschluss. Ich bekomme dadurch eine Möglichkeit, die mir Redaktionen allzu oft verwehrt haben: Ich kann meine Rechercheergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. | 15 | | 16 |

Kapitel 1
    EIN SCHOCK FÜR DIE NAZIS
    »Die Wichser waren tatsächlich drin mit versteckter Kamera und haben gefilmt!!!«
    Ein »Regime-Gegner« in einem Neonazi-Internetforum, nachdem er am 5. Oktober 2003 Ausschnitte eines Rechtsrockkonzerts in der Vorschau des Spiegel TV Magazins gesehen hatte | 17 | | 18 |
    Der 4. Oktober 2003 geriet zu einem schwarzen Tag für die »Braunen«. Die Neonazi-Szene erlebte im Kampf um rechtsfreie Räume einen GAU, der nicht mit der gleichnamigen Gebietsbezeichnung im »Deutschen Reich« zu verwechseln ist … Die politisch verstrahlte Bewegung verlor eine Schlacht um ihre konspirativen Konzerte. Diese Hassorgien prägen die nationalsozialistische Jugendkultur im Europa der Gegenwart. Für die Nachwuchsrekrutierung sind sie strategisch unverzichtbar: Tausende tanzen nach der Pfeife der braunen Rattenfänger.
    Schon die Anfahrt bietet den Reiz des Illegalen, der insbesondere junge Männer fasziniert: eine geheime Schnitzeljagd mit Kontakt-Handys, Wegbeschreibungen (nach Gesichtskontrolle) und Fahrzeugkonvois, die hinter Schleusern herrasen. Woche für Woche treten Skinheads zu solchen Räuber- und Gendarm-Spielen an, wobei die Polizei oft nicht oder nur halbherzig mitspielt. Wie an jenem Oktobersamstag des Jahres 2003, an dem die Rechtsrocker trotzdem eine unerwartete Schlappe hinnehmen mussten. Nicht gegen die Staatsmacht, sondern gegen einen unbekannten Gegner: eine(n) Video-Kamera(den).
    Als Undercover-Journalist hatte ich den geheimen Vorabtreffpunkt in der französischen »Westmark« (Nazi-Jargon, in Anlehnung an einen geplanten Reichsgau während der Nazi-Diktatur) ausfindig gemacht. Anschließend habe ich mit einer Knopflochkamera dokumentiert, wie sich selbst ernannte Herrenmenschen benehmen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen – alles andere als herrlich. Mangels staatlicher Überwachung nutzten und nutzen Neonazis ihre konspirativen Konzerte als rechtsfreie Räume. Indem ich in das menschenverachtende Milieu eingedrungen bin, ist diese Bastion der Anonymität gefallen. Meine Kamera, deren Objektiv | 19 | nur so groß ist wie ein Stecknadelkopf, wurde zum Auge der Öffentlichkeit.
    Das dämmerte den Demokratiefeinden am Tag nach meinem ersten Dreh, als sie einen Themen-Trailer im Fernsehen sahen, der die anschließende Sendung des Spiegel TV Magazins ankündigte. Eine Person, die sich »Regime-Gegner« nannte und den Titel »Sklaventreiber« trug, schrieb am 5. Oktober 2003, um 22.53 Uhr, in einem
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