Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blinde Goettin

Blinde Goettin

Titel: Blinde Goettin
Autoren: Anne Holt
Vom Netzwerk:
möchte nur wissen, was du vor Gericht sagen wirst. Und ich muß das jetzt wissen.«
    Karen Borgs Erfahrung mit Kriminellen ohne blütenweißen Kragen und Seidenschlips beschränkte sich darauf, hinter einem Fahrraddieb und ihrem neuen Fünfzehn-Gänge-Rad hergeheult zu haben. Aber sie hatte schließlich ihren Fernseher. Matlock hatte gesagt: »Ich will nicht die Wahrheit wissen, ich will wissen, was du vor Gericht sagen wirst.« Aus ihrem Mund klang das nicht so fesch. Eher zögerlich. Aber vielleicht konnte sie doch irgend etwas aus ihm herauslocken.
    Einige Minuten waren vergangen. Ihr Gegenüber wippte nicht mehr auf und ab, sondern kratzte mit dem Stuhl auf dem Linoleum herum. Dieses Geräusch ging ihr auf die Nerven.
    »Ich habe den Mann, den du gefunden hast, umgebracht.«
    Karen Borg war eher erleichtert als überrascht. Sie hatte gewußt, daß er es gewesen war. Er sagt die Wahrheit, dachte sie und bot ihm eine Halspastille an. Der Junge rauchte gern mit einer Pastille im Mund, genau wie sie selbst. Sie hatte damit vor vielen Jahren angefangen, aus der Vorstellung heraus, daß das gegen Raucheratem half. Nach einer Weile hatte sie begriffen, daß das nicht der Fall war, aber da hatte sie Gefallen an ihrer Angewohnheit gefunden.
    »Ich habe den Mann umgebracht.« Er schien jemanden überzeugen zu wollen. Das war nicht nötig. »Ich weiß nicht, wer er ist. War, meine ich. Das heißt, ich weiß, wie er heißt und wie er aussieht. Aussah. Aber ich habe ihn nicht gekannt. Kennst du noch andere Anwälte?«
    »Sicher«, antwortete sie und lächelte erleichtert. Er erwiderte das Lächeln nicht. »Kennen ist vielleicht übertrieben, ich bin mit keinem befreundet, wenn du das meinen solltest, aber es wäre kein Problem, einen guten Verteidiger für dich zu finden. Schön, daß du einsiehst, was du brauchst.«
    »Du sollst mir keinen neuen Verteidiger besorgen. Ich frage bloß, ob du einen kennst. Rein privat.«
    »Nein. Doch, na ja, zwei von meinen früheren Kommilitonen haben sich darauf spezialisiert, aber keiner von ihnen spielt in der ersten Liga. Noch nicht.«
    »Triffst du sie oft?«
    »Nein, höchstens mal zufällig.«
    Das war wahr. Karen Borg hatte nicht mehr viele Freunde. Einer nach dem anderen waren sie aus ihrem Leben getrottet, oder sie aus ihrem; ihre Wege führten in verschiedene Richtungen und kreuzten sich nur noch gelegentlich ein paar Höflichkeitsphrasen lang, bei einem Bier im Sommer oder einem Kinofilm in späten Herbststunden.
    »Das ist gut. Dann will ich dich. Von mir aus können sie mich wegen dieses Mordes anklagen; ich bin mit der Untersuchungshaft einverstanden. Aber du mußt die Polizei dazu bringen, mir eins zu versprechen: Ich will hier im Polizeigebäude sitzen bleiben. Ich will um keinen Preis ins Gefängnis!«
    Der Mann überraschte sie immer wieder von neuem. In unregelmäßigen Abständen brachten die Zeitungen große Artikel über die restlos unwürdigen Zustände in der Arrestabteilung des Polizeigebäudes. Die Zellen waren für einen vierundzwanzigstündigen Aufenthalt vorgesehen und selbst dafür kaum geeignet. Dieser Mann wollte hier bleiben. Wochenlang.
    »Warum denn?«
    Der Junge beugte sich zu ihr herüber. Sie spürte seinen Atem, unangenehm nach mehreren Tagen ohne Zahnbürste, und ließ sich im Sessel zurücksinken.
    »Ich verlasse mich auf niemanden. Ich muß nachdenken. Wenn ich ein paar Tage nachgedacht habe, können wir weiterreden. Bitte, komm dann wieder her und sprich mit mir!«
    Er wirkte angespannt, fast schon verzweifelt, und zum erstenmal empfand sie Mitleid mit ihm. Sie wählte die Nummer, die Håkon auf einen Zettel gekritzelt hatte.
    »Wir sind fertig. Du kannst uns holen kommen.«
     
    Karen Borg brauchte zum Termin vor dem Untersuchungsrichter nicht zu erscheinen, und das war gut so. Sie war nur einmal bei einem solchen Termin zugegen gewesen. Und zwar während ihres Studiums, als sie noch glaubte, sie würde ihr Können einst für die Bedürftigen einsetzen. Sie hatte sich in Saal 17 auf die Zuhörerbank fallen lassen, hinter einer Schranke, die dazu zu dienen schien, die unschuldigen Zuhörer vor der brutalen Wirklichkeit im Raum zu beschützen. Alle halbe Stunde wurde jemand in Untersuchungshaft geschickt, und nur bei einem von elf Delinquenten ließ der Richter sich von dessen Unschuld überzeugen. Damals hatte sie kaum unterscheiden können, wer Staatsanwalt war und wer Verteidiger; sie hatten gelächelt und waren dicke Freunde gewesen, hatten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher