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Bliefe von dlüben: Der China-Crashkurs (German Edition)

Bliefe von dlüben: Der China-Crashkurs (German Edition)

Titel: Bliefe von dlüben: Der China-Crashkurs (German Edition)
Autoren: Christian Y. Schmidt
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China, zumindest der zweite Teil. Nur: Mit dem echten China hat der Operettenquatsch so viel zu tun wie ein Sack Reis mit zwei Pfund Kartoffeln. Weder trifft die Spielhandlung die chinesischen Verhältnisse von 1912 (auf dieses Jahr ist sie datiert) noch die von heute. Lächeln? Die Chinesen? Lehár – der natürlich nie in China war – hatte ja keine Ahnung. China ist eher das «Land des bösen Blickens». Bei meiner Wohnungssuche in Peking sah ich zig übelgelaunte, potenzielle Vermieter auf schwarzen Sofas hocken, vor sich hin rauchen und mich finster anstarren, manche sogar mit Zornesfalten auf der Stirn. Ähnliche Gesichter sah ich auch auf der Straße. Was, fragte ich mich, ist mit diesen Leuten los, dass sie in den Weltmissmutscharts den ersten Platz einnehmen?
    Ein angemessener Titel für Lehárs Operette wäre sicher auch «Land des Rotzens», denn jeder Zweite rotzt hier voller Leidenschaft. Dabei befleißigt man sich keineswegs eines normalen Räusperrotzens. Im ersten Restaurant, das ich in China betrat, würgte gerade ein Mann seine Bronchien durch die Luftröhre und anschließend große Fladen auf den Boden. Auch junge, zarte Damen rotzen hier schamlos wie die Soldaten. Aber selbst wenn Lehár von dieser Angewohnheit gewusst hätte, er hätte wohl sein Stück nicht umbenannt. Schließlich taugt eine Liedzeile wie: «Immer nur rotzen und immer verklebt …» kaum zum Evergreen.
    Eigentlich ist aber China das «Land des Brüllens». Es gibt hier Straßen, da stehen Hunderte von Schreiern dicht an dicht. Sie schreien die Passanten an, doch gefälligst in den Laden zu kommen. Im Restaurant brüllt man «Xiao Jie», was so viel wie Fräulein heißt. Es klingt aber so, als rufe man einen Hund. Ist die Bedienung da, wird sie zunächst mit einem Schwall Beschwerden eingedeckt. Dann diktiert man ihr das Gewünschte bellend in den Block. Das ist die ganz normale Art der Bestellung und wird auch in beliebten China-Kulturführern wie «101 Stories for Foreigners to Understand Chinese People» aus dem Verlag Liaoning Education Press durchaus eingeräumt, wenn auch indirekt: «Shouting for waiters is not necessary in every restaurant in China. You don’t need to, and should not, call out in quiet restaurants and in expensive Western-style restaurants.» In allen restlichen Restaurants aber wohl doch.
    Zeitungsverkäufer lassen die Titel der neuen Tageszeitungen vom Band herauskrakeelen, verstärkt von kleinen, blechern klingenden Megaphonen. Überhaupt: Megaphone. Am dritten Tag vor Ort ging ich zur Bank. In der Schalterhalle warteten einige hundert Kunden geduldig. Direkt vor ihnen aber hatte sich eine uniformierte Bankangestellte aufgebaut und belferte den Leuten per Megaphon die aufgerufenen Wartenummern ins Gesicht. Natürlich wurden die Ziffern auch auf einem großen Leuchtdisplay angezeigt – man ist hier schließlich nicht von gestern –, aber ohne Angebrülltwerden würde den Pekingern wahrscheinlich was fehlen.
    «Land des Randalierens» wäre aber auch nicht verkehrt. Zwar klebt in jedem Restaurant ein Sticker, auf dem ein Polizist mit erhobenem Finger mahnt: «Es ist verboten, sich über das vernünftige Maß hinaus zu betrinken und anschließend Krawall zu machen.» Doch dieser Appell scheint nichts zu fruchten. Ich jedenfalls konnte in einem Nudelshop in der Nähe der Wangfujing-Fußgängerzone aus nächster Nähe beobachten, wie ein bulliger Nudelkoch und sein Sohn binnen einer halben Stunde zweimal Streit mit ihrer Kundschaft anfingen. Das erste Mal kroch der Vater unterm Tresen durch und konnte von den Umstehenden nur mit Mühe daran gehindert werden, einem harmlosen Nudelkäufer was vors Maul zu hauen. Zehn Minuten später war’s der Sohn. Der Verwandtschaftsgrad war übrigens leicht zu erkennen: Zum fiesen Grinsen trugen beide mehrfach gebrochene Boxernasen.
    Leider reicht mein Chinesisch nicht aus, um die Beschimpfungen zu verstehen, mit denen die schreienden Pekinger sich eindecken. Doch geriet ich vor ein paar Wochen zufälligerweise zwischen die Massen, die zum Norah-Jones-Konzert strömten. Ich bemühte mich gerade, auf dem Zebrastreifen vorwärtszukommen, da hörte ich, wie ein europäisch aussehender Mann einen Autofahrer anbrüllte, teils auf Chinesisch, teils in einem ausgesuchten Deutsch: «Du wartest, Arschloch!» Eine Frau – offensichtlich seine – fiel kreischend ein: «Warten, Drecksack.» Dann überquerten beide im Marschtempo die Straße und bahnten sich vergnügt den Weg
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