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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
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Anwesenden im Saal mustert, zeigt, dass sie überall eine Gefahr vermutet.
    Ich suche mir einen Platz in der ersten Reihe, hinter den Tischen der Verteidigung. Sie steht zwei Meter vor mir. Ihr Mandant grüßt sie kaum und blickt sich ebenfalls nervös um.
    »Keine Sorge, es wird alles gutgehen«, sagt sie ihm.
    Ich drehe mich um und will mich setzen.
    Da sehe ich den Mann.
    Es ist der, der mich angerempelt hat. Ich bin beim Hereinkommen an ihm vorbeigegangen. Er hat draußen gewartet, und ich hatte ihn für einen Journalisten gehalten.
    Wie ich ihn jetzt eintreten sehe, den Blick stier geradeaus gerichtet, weiß ich, dass ich mich geirrt habe.
    Der ist nicht beruflich hier.
    Auch nicht aus Neugier.
    Er hat es auf jemanden abgesehen.
     
    Er schießt.
    Schießt, ohne zu zögern. Er schießt, als wäre er jemand anders. Er schießt, als wäre die Vergangenheit zurückgekehrt, um die Gegenwart zu verschlingen. Er schießt mit der gleichen Präzision und Kaltblütigkeit wie sonst. Er schießt, ohne die Schreie zu hören, die Gesichter zu sehen.
    Er schießt, um zu töten. Zuerst die beiden Bullen. Dann die junge Frau. Zuletzt den Glatzkopf.
    Er zielt noch immer, zuerst auf einen Mann, dann auf eine Frau, dann auf den Trottel, der mitten im Flur stand und jetzt neben der jungen Frau kniet.
    Du wirst sie nicht retten, du Idiot. Keiner von uns wird sich retten.
    Er richtet den Lauf auf einen Bullen, der den Saal von hinten betreten hat, auf ihn zielt und brüllt, er solle die Waffe fallen lassen, er habe keine Chance zu entkommen.
    Ich habe keine Chance, denkt der Mann. Da wäre ich ohne diesen Scheißbullen ja nie drauf gekommen.
    Er grinst. Das hungrige Feixen einer Hyäne.
    »Ich heiße Angelo Mazza!«, schreit er, und Stille erfüllt den Saal.
    »Ich heiße Angelo Mazza! Seht ihr mich? Könnt ihr mich alle sehen?«
    »Ich heiße Angelo Mazza«, wiederholt er zum letzten Mal. »Und ich habe einen Verräter bestraft.«
     
    Ohne zu begreifen, was los ist, bricht Michela zusammen, geht neben den beiden Beamten zu Boden, Blut mischt sich mit Blut.
    Rein zufällig lande ich neben ihr. Kaum hat der Mann auf den ersten Polizisten geschossen, werfe ich mich auf die Knie. Er trifft ihn im Genick, ein einziger Schuss. Ein weiterer Schuss für den Kollegen, noch ehe der sich umdrehen kann.
    Michela wird zweimal in die Brust getroffen. Die nächste Kugel ist für ihren Mandanten, der zu fliehen versucht, aber keine zwei Meter weit kommt. Ein einziger Schuss, knapp unterm Hals.
    Er richtet die Pistole auf mich, und die Welt verschwindet in einer gläsernen Blase.
    Die Atemluft brennt in meinen Lungen, etwas Eisiges schießt mir durchs Rückenmark wie ein Nagel, der über eine Tafel kreischt. Es dauert nur wenige Sekunden. Als die Polizei eintrifft, zerbirst die Blase in zahllose Splitter. Alle brüllen, einer lauter als der andere.
    Dann dieser Name, sein Name. Er wiederholt ihn dreimal, immer lauter, zerreißt die Stille und blendet alles andere aus.
    Selbst den Tod.
    Die letzte Kugel hat er für sich aufgespart, und als ich ihn zusammenbrechen sehe, verschlagen mir Grauen und Erleichterung den Atem. Meine Augen sind weit aufgerissen, mein Atem geht hektisch. Meine Hände sind eiskalt und voller Blut.
    Michelas Blut.
    Michela, die die Augen aufreißt und mich ansieht.
    Michela, die mich ansieht und den Mund öffnet.
    Michela, die den Mund öffnet und etwas sagt.
    Ein Wort.
    Ein Wort, das alles verändert.
     
    Venedig hat das verlebte Aussehen einer Stadt, die sich aufgegeben hat. Ich fühle mich unwohl dort. Ich kriege es noch nicht einmal hin, an einem Herbsttag irgendwo zwischen San Rocco und Santa Croce zu sitzen und ein belegtes Brötchen zu essen.
    Als ich Giulia das sage, kontert sie wie immer, wenn sie es für unnötig hält, das Gespräch aufrechtzuerhalten.
    »Weil du ein Möchtegernsnob bist.«
    Ich sehe sie an, das erhobene Kinn, das zusammengebundene Haar, die dunklen, schmalen Augen, die präzise, geschmeidige Bewegung, mit der sie die Spaghetti auf die Gabel rollt. Vor zwei Jahren ist sie von zu Hause ausgezogen, und manchmal habe ich den Eindruck, sie vergessen zu haben. Wenn ich sie dann besuche, mache ich eine kuriose Bestandsaufnahme und stelle fest, dass mir nicht das winzigste Detail verlorengegangen ist.
    »Hörst du mir überhaupt zu?«
    »Klar«, sage ich. Eine unverschämte Lüge.
    »Dass alles so scheiße ist, haben wir auch Leuten wie dir zu verdanken, weißt du?«
    »Leuten wie mir?«
    Sie gießt sich
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