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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
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nennt, waren das einzig Gute in einer sehr unglücklichen Verkettung von Umständen. Sechs Monate ehe ich Witwer wurde, war eines meiner Manuskripte verlegt worden. Plötzlich und auf jene wundersame Weise, die kein Verleger willentlich erzeugen kann, fing es an, sich zu verkaufen.
    Das Geld war da. Genug, um mich zu Hause einzuschließen, meine Tochter großzuziehen und der beruflichen und finanziellen Unsicherheit zu entfliehen. Ein Buch pro Jahr reichte.
    Doch Giulia hat mir das nie verziehen. Du hast deine Träume aufgegeben, sagt sie jedes Mal, wenn das Thema darauf kommt. Und es ist schwer, ihr zu widersprechen.
    Ich trinke den Rest meines Bieres aus.
    »Du solltest darüber mit Großvater reden«, sagt sie und scheint fieberhaft zu überlegen, wie sie mich dazu bringen kann, meinen früheren Job wieder aufzunehmen. Die Mission ihres Lebens.
    »Ja, vielleicht.«
    »Weißt du, welches die entscheidende Frage ist, Papa? Ob du diese Geschichte erzählen willst.«
    Eine Geschichte erzählen. Ihre Obsession.
    Früher oder später wird sie ihr nachgeben, das weiß ich. Sie wird ihre bescheißenden Kommilitonen mitsamt der Fakultät und der Architekturkarriere in den Wind schießen und in irgendeiner Redaktion landen, unterbezahlt, lebenslänglich und unter dem gütigen Schutzschild des Familiennamens, um eine Geschichte zu erzählen, die es wert ist, sich den Arsch dafür aufzureißen.
    Ihre Mutter war genauso, als ich sie kennenlernte. Auf der unbedingten Suche nach der Wahrheit. Auch deshalb habe ich mich in sie verliebt. Wenn man mit ihr zusammen war, hatte man das Gefühl, es müsse irgendeine Form der ausgleichenden Gerechtigkeit geben. Man hörte ihr zu, und es leuchtete ein, für eine Sache zu kämpfen, man glaubte sogar, man könnte gewinnen. Sie war das Gute in der Welt, das ein frustrierter Einzelgänger wie ich nie zu Gesicht bekommen hat.
    Genau das sehe ich in unserer Tochter. Die gleiche verzweifelte Glut.
    »Sagst du mir noch mal was dazu, Papa?«
    Ich nicke. Streichle Giulias Hand, die sie mir hinstreckt. Versuche, mir einen Fluchtweg zu bahnen.
    »Ich weiß noch nicht einmal, ob es eine Geschichte gibt.«
    Kaum hat sie verstanden, was ich vorhabe, zieht sie die Hand zurück.
    »Dann find es heraus«, sagt sie. »Das bist du ihr schuldig. Diese Frau ist gestorben, weil sie mit dir reden wollte.«
     
    Das blaue Auto biegt links ab und fährt auf die Landstraße. Die Sonne scheint, es ist Nachmittag, der Frühling fühlt sich wie Sommer an, im Radio dudelt ein Lied, dem keiner zuhört, die Straße führt an Feldern vorbei, über eine Brücke, verengt sich und zieht sich den Hügel hinauf.
    Im Auto sitzen drei Leute. Zwei Männer und eine Frau. Ich weiß nicht, wohin sie fahren oder wieso. Ich könnte versuchen, mich beim Blick aus dem Fenster an etwas zu erinnern, aber sofort verlässt mich die Lust.
    Doch dass Samstag ist, weiß ich sicher. Ein Samstag im Mai.
    Der Mann am Steuer blickt auf die Straße, sagt etwas, will sich an ein wichtiges Detail erinnern, doch die Zeit bleibt ihm nicht. Nicht einmal jetzt, im Traum.
    Als passiert, was passieren muss, ist plötzlich überall Stille. Sie erfüllt den Wagen, frisst Luft und Worte mit der gleichen Gier wie ein Gewitter den Sommerhimmel.
    In dem Moment kommt das rote Auto.
    Es taucht in der Kurve auf, weder schnell noch langsam. Nur eines von vielen, denen wir seit Beginn der Reise begegnet sind. Dahinter ein BMW. Grau metallic, ich werde es nie vergessen. Die gleiche Farbe wie der Fluss, der zehn Meter unter uns fließt. Als er beschleunigt, ist der Abstand zwischen dem blauen und dem roten Wagen zu gering für alles.
    Der BMW schwenkt aus. Beschleunigt.
    Der Mann am Steuer blickt uns entgegen.
    Besetzt die Spur.
    Und ich bin mir sicher, dass er lächelt.
     
    Als ich aufwache, ist es vier Uhr morgens, im Fernseher flimmert ein alter James-Stewart-Film. Ich habe diesen Alptraum seit Jahren.
    Ich setze mich auf, fahre mir mit den Händen übers Gesicht, hole tief Luft. Einen Moment lang nimmt das Bild der zerberstenden Windschutzscheibe das gesamte Blickfeld ein. Ich nehme die Hände herunter und reiße die Augen auf.
    Die Wand, das Telefon, das Bücherregal, die Zeitung auf dem Boden, aufgeschlagen beim Kinoprogramm, ein LKW, der die Kreuzung vor dem Haus überquert. Die Welt ist auch diesmal in den Angeln geblieben.
    Ich stehe auf. Mir ist kalt, aber ich merke es nicht. Noch so ein Nebeneffekt, neben dem Geruch nach Fäulnis und Blut, mit dem mein
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