Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
Vom Netzwerk:
werde sie erzählen, weil manche Leute meinen, sie dürfe nicht erzählt werden. Ich werde sie erzählen, weil ich keine andere Wahl mehr habe. Ich werde sie erzählen, um vielleicht meine Haut zu retten.
    Ich werde sie erzählen, weil das Land der vergessenen Geschichten meiner Geschichte die Staatsbürgerschaft verweigert.

 
    »Die Zukunft lag hinter ihnen. Vor ihnen lag nur noch die Erinnerung.«
    Jean Claude Izzo, Total Cheops  
     
    Der Mann hat keine Eile.
    Er hat die Hände in den Taschen und blickt sich um. Ein junges Mädchen auf zu hohen Absätzen wartet auf den Bus. Ein Typ quatscht in sein Handy und redet mit einem gewissen Guga. Ein Auto fährt über Rot.
    Der Mann schenkt jedem von ihnen einen Funken seiner Aufmerksamkeit. Dann bleibt er vor dem Schaufenster eines Kleiderladens stehen und kontrolliert, ob alles sitzt. Er hat seine Garderobe mit Bedacht gewählt. Ein frisch gewaschenes weißes Hemd. Helle Jeans, dunkler Pulli, schwarze Jacke. Er hat kurz überlegt, ob er die Augen hinter einer Sonnenbrille verstecken soll. Mit den riesigen dunklen Gläsern sieht er aus wie eine Fliege, perfekt, um aufzufallen. Keine gute Idee.
    Er hat sie aufs Bett geworfen. Eine nachlässige Geste, die letzte. Dann ist er gegangen, ohne die Tür ins Schloss zu ziehen. Wenn sie kommen, müssen sie sie nicht eintreten.
    Er sieht auf die Uhr. Er ist sogar zu früh. Er geht um die Ecke und trinkt einen Kaffee, vertieft sich in einen Artikel über das Spiel vom Vorabend. Als er fertig ist, fragt er sich, weshalb ihn das so sehr interessiert, und findet keine schlüssige Antwort. Angewohnheiten wird man nicht los.
    Auch wenn sie überflüssig geworden sind. Auch wenn die letzten Lebensminuten gezählt sind.
    Erst, als er den Justizpalast betritt, wird ihm klar, was gerade geschieht. Als er in der Eingangshalle steht, um Mut für den nächsten Schritt zu fassen, begreift er, dass die Zeit der Entscheidungen abgelaufen ist. Es bleibt zu tun, was zu tun ist, ohne Wenn und Aber. Er macht einen Schritt nach rechts, sein Körper bekommt die Last der Wirklichkeit zu spüren, er lehnt sich an die Wand, sucht eine Bank, setzt sich.
    Ich breche zusammen, denkt er. Das packe ich nie.
    Er schließt die Augen und legt das Gesicht in die Hände.
    »Alles in Ordnung?«
    Er hört die Frage nicht. Nicht einmal, als sie wiederholt wird. Jemand berührt ihn an der Schulter, er sieht auf. Ein Carabiniere.
    »Alles in Ordnung?«
    Antworte. Atme. Denk nach. Antworte. Atme.
    Ich sterbe. Klar ist alles in Ordnung.
    Er lächelt.
    »Ich bin nur ein bisschen nervös. Ich lasse mich gleich scheiden.«
    Der Carabiniere lächelt zurück, nickt grüßend und geht davon.
    Der Mann sieht ihn am Ende der Halle verschwinden, steht auf, geht zum Klo, spritzt sich, ohne in den Spiegel zu sehen, Wasser ins Gesicht, geht wieder hinaus. Die Welt hat ihre Schärfe zurück. Wieder vergräbt er die Hände in den Taschen und setzt sich in Bewegung.
    Noch ein paar Minuten, und alles ist vorbei.
    Noch ein paar Minuten, und er wird das Richtige getan haben.
    Noch ein paar Minuten, und nichts braucht ihn mehr zu kümmern.
    Auch nicht, dass die Angst ihm fast die Luft abschnürt.
     
    »Ich muss mit Ihnen sprechen.«
    Das Telefon hatte am Dienstag, den 30. September 2003 geklingelt und mich aus einem unruhigen Schlaf gerissen, in den ich, ohne es zu merken, gefallen war. Mit geschlossenen Augen hatte ich nach dem Hörer getastet, um das Klingeln zu beenden.
    »Wer ist da?«
    »Bitte hören Sie mir zu. Ich heiße Michela Santini. Sie kennen mich nicht. Aber ich muss Sie treffen.«
    Ich hatte mich aufgesetzt. Eine Frauenstimme. Jung. Ein Name, der mir nichts sagte.
    »Hören Sie, wenn das ein Scherz sein soll …«
    Ihre Stimme war gedämpft.
    »Ich kann mir keine Scherze erlauben.«
    Es klang wie herausgerutscht. Ein paar Sekunden herrschte Schweigen. Vielleicht bereute sie ihren Entschluss.
    »Ich habe ein Problem, und Sie können mir dabei helfen. Ich bitte Sie nur, sich mit mir zu treffen. An einem öffentlichen, belebten Ort.« Pause. »Bitte.«
    »Wo?«
    Die Frage hatte mich selbst überrascht. Instinktive Reaktionen hatte es bei mir schon seit Ewigkeiten nicht mehr gegeben.
    »Im Justizpalast, dritter Stock. Dort gibt es einen Flur mit einer großen Fensterfront. Ich bin Anwältin. Um zwölf habe ich eine Verhandlung. Doch vorher würde ich gerne mit Ihnen reden. Es wird nur wenige Minuten dauern. Sie können dann entscheiden, ob Sie bis zum Ende der Verhandlung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher