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Blausäure

Blausäure

Titel: Blausäure
Autoren: Agatha Christie
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immer sie umgebracht hat, muss ja einen Grund dafür gehabt haben.»
    «Aber George, du bist verrückt – »
    «Manchmal glaube ich das selbst. Aber dann wieder weiß ich, dass ich auf der richtigen Spur bin. Und ich muss es herausfinden. Ich will die Wahrheit wissen. Du musst mir helfen, Iris! Denk nach! Erinnere dich! Das ist es – wir müssen uns erinnern! Immer wieder jenen Abend durchgehen! Verstehst du: Wenn sie wirklich umgebracht wurde, dann muss es jemand gewesen sein, der mit am Tisch gesessen hat! Das ist dir doch wohl klar?»
    Ja, es war ihr klar. Und sie konnte die Erinnerung an jene Szene nicht länger verdrängen. Sie musste alles noch einmal erleben. Die Musik, die Trommelwirbel, die verlöschenden Lichter. Dann die Show, und wie hinterher die Beleuchtung wieder anging, und wie Rosemary sich über den Tisch krampfte, das Gesicht blau und entstellt.
    Iris bekam eine Gänsehaut. Sie hatte Angst – schreckliche Angst…
    Sie musste nachdenken – zurückgehen – sich erinnern.
    Rosemary… Rosmarin, das ist für treu Gedenken…
    Es durfte kein Vergessen geben.

Zwei

Ruth Lessing
     
    W ährend einer kurzen Atempause, die ihr volles Arbeitspensum ihr plötzlich ließ, erinnerte sich Ruth Lessing an die Frau ihres Chefs, Rosemary Barton.
    Sie hatte Rosemary nie sonderlich gemocht. Allerdings hatte sie das Ausmaß ihrer Abneigung erst an jenem Novembermorgen erkannt, als sie zum ersten Mal mit Victor Drake sprach.
    Diese Unterredung war der Auslöser gewesen, der alles ins Rollen gebracht hatte. Bis dahin hatten ihre Gefühle und Gedanken so tief in ihrem Unterbewusstsein geschlummert, dass sie von ihnen im Grunde nichts wusste.
    Sie war George Barton treu ergeben, war es immer gewesen. Als sie ihre Stelle bei ihm angetreten hatte – eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren, kühl und kompetent –, da hatte sie begriffen, dass er jemanden brauchte, der für ihn sorgte. Und sie hatte für ihn gesorgt. Sie hatte ihm Zeit, Geld und Ärger erspart. Sie hatte seine Freunde ausgewählt und passende Hobbys empfohlen. Von manch einem dubiosen Geschäftsabenteuer hatte sie ihn abgehalten, aber gelegentlich auch zu kalkulierbaren Risiken ermutigt. In ihrer langen beruflichen Zusammenarbeit wäre es George nicht im Traum eingefallen, in ihr etwas anderes zu sehen als den dienstbaren Geist, der seine Anweisungen ausführte. Er empfand ein ausgesprochenes Vergnügen angesichts ihrer adretten Erscheinung: ihr dunkel glänzender Schopf, die klassischen Kostüme mit den gestärkten Blusen, die kleinen Perlen an ihren hübschen Ohren, das dezent geschminkte Gesicht, das zarte Rose auf ihren Lippen…
    Ruth war absolut richtig, das fühlte er.
    Er mochte ihre unsentimentale, nüchterne Art. Ihre Fähigkeit, Distanz zu wahren, erleichterte es ihm, von sich aus des Öfteren über private Dinge mit ihr zu sprechen. Sie war eine geduldige Zuhörerin und gab ihm manchen nützlichen Rat.
    Mit seiner Heirat hatte sie allerdings nichts zu tun gehabt. Sie war dagegen gewesen. Jedoch fand sie sich damit ab und war Rosemary Marie eine unschätzbare Hilfe bei den Hochzeitsvorbereitungen.
    In der ersten Zeit seiner Ehe stand sie mit ihrem Chef auf etwas weniger vertrautem Fuß. Sie beschränkte sich strikt aufs Geschäftliche, und George überließ ihr eine ganze Menge.
    Aber ihre Kompetenz war so groß, dass auch Rosemary es bald erkannte und ihre Hilfe in allem Möglichen in Anspruch nahm. Und Georges Miss Lessing war stets liebenswürdig, heiter und höflich.
    George, Rosemary und Iris redeten sie mit dem Vornamen an, und oft kam sie zum Mittagessen an den Elvaston Square. Sie war jetzt neunundzwanzig, sah aber noch genauso aus, wie sie mit dreiundzwanzig ausgesehen hatte.
    Auch wenn sie nicht über private Dinge redeten, so registrierte Ruth jede noch so kleine Gefühlsschwankung ihres Chefs doch ganz genau. Sie spürte, als sich der erste Überschwang des Verliebtseins in seiner Ehe in verzückte Zufriedenheit wandelte, und es blieb ihr nicht verborgen, als diese Zufriedenheit etwas anderem wich, was nicht mehr so leicht zu benennen war. Seinen Mangel an Konzentration zu jener Zeit fing sie durch eigene Vorhersicht auf. Dabei ließ sie es sich niemals anmerken, dass sie seine Zerstreutheit bemerkte. Das machte ihn doppelt dankbar.
    An einem Morgen im November sprach George sie wegen Victor Drake an.
    «Könnten Sie mir was Unangenehmes abnehmen, Ruth?»
    Sie sah ihn aufmunternd an. Natürlich erwartete er keine Antwort auf
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