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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat.
Autoren: Necla Kelek
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gar nicht mehr, nach dem dreistöckigen Holzhaus des Freundes zu fragen, hielt aber bei den Gardinen, die er in den Fenstern oder auf den Balkonen sah, Ausschau nach dem typischen Kreuzstich aus Kayseri – mit Genähtem kannte er sich schließlich aus. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und sprach eine ältere Frau an, um sie nach einer Familie aus Kayseri zu fragen. So fand er endlich zur Familie seines Freundes.
    Dessen Eltern meldeten ihn am nächsten Morgen in der Schule an, einem Prachtbau aus Marmor und Stein, der Enischte tief be eindruckte und den er fortan jeden Tag aufsuchte. Er war ein wissbegieriger Junge und ging gern zur Schule. Aber es war Krieg, die deutsche Wehrmacht hatte 1941 Griechenland besetzt und stand nur wenige Kilometer vor Istanbul. Abends mussten die Fenster verdunkelt werden, und niemand durfte mehr auf die Straße. Brot gab es nur auf Lebensmittelkarten, und für einen jungen Mann wie Enischte war es immer zu wenig. »Mein Vater schickte mir Geld«, erzählte er, »sodass ich jeden Mittag in einer lokant a essen konnte. Wenn ich nicht bezahlen konnte, ließ ich anschreiben. Einmal aber war es so weit gekommen, dass ich keinen einzigen kuru s mehr in der Tasche hatte. Mein Freund war auch nicht besser dran. Wir fühlten uns hungrig wie nie. Wie leicht wäre das Leben doch, so träumten wir vor uns hin, wenn wir jetzt zu Hause wären, in den Garten gehen und von den süßen Aprikosen essen könnten.
    Ich war so in meinen Kummer versunken, dass ich meinen Ohren nicht traute, als ich eines Tages plötzlich meinen Namen hörte. Ich blickte auf: Mein Vater stand vor mir, einen großen Koffer neben sich! Vor Erleichterung fing ich laut an zu schluchzen. Als er später im Hotel den Koffer öffnete, schien sich das Paradies aufzutun – es gab gebratenes Hühnchen, Käserollen, eingelegte Feigen, selbstgemachtes Brot, alles, was ich so lange entbehrt und vermisst hatte.«
    Bald darauf zogen Enischtes Eltern nach Istanbul, damit ihr Sohn studieren konnte. Der Vater eröffnete dort ein Lebensmittelgeschäft. Nach dem Studium fand Enischte eine Anstellung in Ankara, die Familie kam mit in die Hauptstadt. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete er als Abteilungsleiter beim Museum für Mineralogie.
    Das Leben ist der Tod
    Das fröhliche Essen im »Haci Ali II« sollte für mich die letzte gemeinsame Mahlzeit mit meinem Onkel Enischte gewesen sein. In der Nacht wachte er öfter auf. Ich hörte ihn nach Wasser rufen. Er konnte nicht schlafen, er hatte Magenbeschwerden, wie er sie bisher nicht gekannt hatte. Mir wird das für immer ein schlechtes Gewissen bereiten, dass er ausgerechnet nach diesem üppigen Mahl krank wurde.
    Drei Jahre quälte ihn die Krankheit, immer wieder von Operationen unterbrochen. Als sein Sohn mir dann am Telefon sagte, dass nichts mehr zu machen sei, lief ich ungläubig und wie ein verlassenes Kind in unserer Berliner Wohnung auf und ab. Mir blieben nur wenige Stunden, um ihn noch einmal zu sehen. Glücklicherweise bekam ich noch am selben Tag ein Flugticket und eilte zum Flughafen.
    Da waren sie bereits versammelt – meine türkischen Brüder und Schwestern. Dicht gedrängt, zwischen Plastiktüten und Übergepäck, saßen sie in der Abflughalle, die Frauen bei den dicken Koffern und Taschen, die Männer unterhielten sich und spielten mit ihren Gebetsketten. Männer und Frauen trennten sich, sobald sie den Warteraum betraten. Die Männer suchten ihre Geschlechtsgenossen auf und die Frauen andere Frauen, mit denen sie ein Schwätzchen halten konnten. Alle redeten türkisch.
    Es war mitten in der Woche, keine Ferienzeit, Urlauber waren hier nicht zu finden. Es waren Rentner, die zwischen den Ländern hin und her pendeln, alle anderen reisten nicht nur zum Vergnügen, sondern eine Hochzeit, eine Krankheit oder Beerdigung hatte sie auf den Flughafen geführt. Die meisten Frauen trugen islamische Tracht, Kopftücher, lange Mäntel, Röcke über weiten Hosen. Auch den kleinen Mädchen hatten sie geblümten Stoff um den Kopf gewickelt.
    Eine ältere dickliche Frau im schwarzen Tschador saß auf einer Bank und wiegte ihren Oberkörper unablässig hin und her. » Teyze , werte Tante, ich habe gehört, ihre gelin , ihre Schwiegertochter, ist gestorben«, sprach eine Verschleierte sie an. »Mein Beileid, werte Tante. Nehmen Sie sie mit in die Heimat?« Die Frau im Tschador nickte stumm. »Das ist gut. Grämen Sie sich nicht, das Leben ist der Tod. Gestern starb bei uns in
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