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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat.
Autoren: Necla Kelek
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doch zugleich jedem, der mit ihm zu tun hatte, das Gefühl zu geben vermochte, nur für ihn da zu sein. Wie immer bei solchen Anlässen hielt der geübte Rhetoriker mit blitzenden Augen eine Rede auf die Zukunft des Landes. Schließlich war er ein überzeugter Anhänger der Republik – ihr hatte er auch persönlich alles zu verdanken.

Ein Kind der Republik
    Enischte war in Pinarbashe in Zentralanatolien aufgewachsen, wo ich ein Jahr meiner Kindheit bei meiner Großmutter verbracht hatte. In der Uzun yol , der Langen Straße, wo seine Familie wohnte, standen damals noch Konaks , alte Häuser im osmanischen Stil, aus Lehm und Holz erbaut und im ersten Stock mit einem vorspringenden Erker geschmückt. Selbst als alter Mann träumte er sich oft zurück in die großen gepflegten Gärten, die sich hinter den Häusern erstreckten, mit ihren Apfel-, Birn-, Kirsch-, Aprikosenbäumen, den schattenspendenden Laubbäumen und der ganzen Blumenpracht. An dem Garten seines Hauses führte ein reißender Bergbach vorbei, der direkt vom Schir van dagi , dem Hausberg Pinarbashes, herunterstürzte, dessen Fels sich 800 Meter über dem Ort erhebt. Das Wasser war sauber und konnte von der Familie als Trinkwasser genutzt werden; eine vom Bach gespeiste Rinne diente als Spülung für das Toilettenhäuschen.
    Für meinen Onkel war das seine Heimat, oft schwärmte er von diesem Paradies. Diese Erinnerung teilten wir: Auch ich denke gern zurück an die glückliche Zeit, als ich mit meinen Geschwistern bei meiner strengen Großmutter Emmana darauf wartete, von den Eltern nach Deutschland geholt zu werden. Später bin ich oft dorthin zurückgekehrt und habe meine Ferien in ihrem Haus verbracht. Aber als ich Anfang 2008 nach vielen Jahren wiederkam, waren die alten Häuser verschwunden; wo einst Obstbäume blühten, standen jetzt billige Mietshäuser; der reißende Bach war nur noch ein kümmerliches Rinnsal und versickerte auf der Brachfläche neben dem einst so stolzen hamam , dem Badehaus. Und die in der Erinnerung so prächtige Uzun yol war zu einer Aneinanderreihung liebloser Bauten verkommen – niemand hatte hier in den letzten zwanzig Jahren einen Pinsel oder einen Besen in die Hand genommen. Die Stadt wirkte wie tot, trotz der vielen unrasierten Männer, die vor den bescheidenen Geschäften herumstanden.
    Mein Onkel hätte sich geschämt, wenn er das gesehen hätte. »Jeden Morgen fegten wir die Straßen, bevor die Männer zur Arbeit gingen«, hatte er mir oft erzählt. »Wenn jeder den Dreck vor seinem Hause fegt, blüht ein ganzes Land«, pflegte er zu sagen.Begeistert sprach er dann von der bürgerlichen Vergangenheit Zentralanatoliens. In Pinarbashe, wie überall in den Städten der 1940er Jahre, wollten die Bürger fortschrittlich und modern sein. Kleider wurden nach dem letzten Pariser Chic geschneidert, Männer und Frauen flanierten gemeinsam durch den Ort und gingen zum Fünf-Uhr-Tee in den cay bahcesi , den Teegarten am Ende der langen Straße. Wer wohlhabend und großzügig war, schenkte der Stadt einen Brunnen, der mit dem Namen des Spenders geschmückt wurde.
    Von dieser Vergangenheit und der Sehnsucht nach dem europäischen Leben ist nichts geblieben. Vielleicht war sie auch nur möglich in einer Zeit, als die türkische Republik nach Westen schaute, die bürgerlichen Werte hochhielt und die zugewanderten Türken aus Kars oder Erzurum und die aus dem Kaukasus gekommenen Tscherkessen, zu denen Enischtes und ein Teil meiner Familie gehörten, die Stadt prägten. Sie hatten aus Russland, von wo man sie vertrieben hatte, ihre Neugier auf Literatur und Wissenschaft mitgebracht. Mein Urgroßvater hatte eine ganze Bibliothek mit theologischen und philosophischen Klassikern auf seiner langen Flucht mitgeschleppt, aus denen in der Familie gelegentlich vorgelesen wurde.
    Enischte gehörte zu den Ersten, die Nutznießer der Reformen von Atatürks 1923 ausgerufener Republik wurden. In den Koranschulen des Osmanischen Reiches, die Atatürk verbot, hatten Kinder noch die falak a zu spüren bekommen: Bäuchlings und mit zusammengebundenen Füßen wurde man dabei aufs Pult gelegt, die Fersen wurden mit Olivenöl eingeschmiert, und dann sauste der Weidenstock des Hodschas , des Vorbeters, darauf nieder. In Enischtes Grundschule gab es das nicht mehr, seine Lehrerin war eine richtige Dame, die Wert darauf legte, dass die Kinder Hochtürkisch lernten, die Sprache der feinen Gesellschaft Istanbuls. Noch im hohen Alter sprach mein Onkel voller
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