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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat.
Autoren: Necla Kelek
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bevölkert wird, die sie als Hirten und Bauern verspotten. Diese Ignoranz kommt teuer zu stehen: »Jetzt sind wir dran«, sagte mir der Bruder einer Abgeordneten, die der Partei Tayyip Erdogans angehört. »Wir«, das sind im Wesentlichen die Millionen Menschen aus Anatolien, die sich an ihre Traditionen klammern und immer schon von den herrschenden Eliten der Osmanen wie der Kemalisten als rückständig verachtet und den archaischen Clans überlassen wurden. Für die kriegerischen Osmanen war Anatolien, das 97 Prozent des Landes ausmacht, nur Durchgangsstation, sie wollten weiter nach Westen, wo es reichere Beute zu holen gab. Für Atatürk und die Republikgründer war es das Rekrutierungsbecken zur Durchsetzung des »Türkentums«, ein Land, aus dem nahezu alle vertrieben wurden, die nichtmuslimisch waren, um das, was den Christen gehört hatte, den »zuverlässigeren« Muslimen zu überlassen und sie so an die Fahne binden zu können.
    Die Türkei hat ein Bild von sich, das auf einem Trugschluss basiert. Es heißt »Türkentum« – eine Drohvokabel, die dazu gedienten hat, schon manchen Kritiker, manche Kritikerin wegen angeblicher »Verunglimpfung« hinter Gitter zu bringen. Wer die Geschichte des Osmanischen Reiches studiert, eines Vielvölkerstaats mit vielen verschiedenen Religionsgemeinschaften, wird erkennen, dass das »Türkentum« eine »Erfindung« der Väter der Republik ist, um ihren Herrschaftsanspruch gegen alle »Nichttürken«, die in Anatolien lebten, durchzusetzen. Erklärt uns das, warum die Türken das Türkentum wie einen heiligen Gral verteidigen? Worauf gründet es, woraus besteht es? Wie wurde Anatolien türkisch und wo blieben die anderen Volksgruppen, die das Vielvölkerreich ausmachten? Welche Kultur, welche gesellschaftlichen Strukturen und welche Werte haben die Osmanen nach jahrhundertelanger Herrschaft den »Türken« hinterlassen? Was haben sie ihren muslimischen Untertanen an Bildung, Gemeinwesen, Städtebau gegeben?
    Die Geschichte der Republik hat einen Namen, der wie ein überlebensgroßer Schatten auf allem liegt: Atatürk. Wie geht die türkische Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit um?
    Wie sieht das Leben der Frauen in Istanbul, Ankara und im Osten Anatoliens aus? Worauf gründen die grausamen Morde im Namen der Ehre, denen sie dort ausgeliefert sind, wo die archaischen Stammesriten herrschen? Hat sich daran seit der Verschärfung der Gesetze etwas geändert?
    Welche Bedeutung haben die heftigen Auseinandersetzungen um das Kopftuch, das in den Augen anderer Europäer doch eigentlich nichts anderes als ein Stück Stoff ist? Sind das nicht die Fragen, die wir prüfen müssen, wenn wir über einen EU-Beitritt der Türkei diskutieren?
    Bei meinen Reisen in den letzten zwei Jahren habe ich zahlreiche Orte in Anatolien besucht, mit den Menschen dort gesprochen und dabei eine Wirklichkeit kennengelernt, die mit dem von der türkischen Regierung folkloristisch angepriesenen »bunten Vielfalt« nichts gemein hat. Eher ist sie weit von den Standards entfernt, die wir den zivilen Demokratien Europas abverlangen.
    Auch meine deutschen Landsleute wissen wenig über die Wirklichkeit Anatoliens, an dessen Geschichte der letzten 150 Jahre immer auch Deutsche beteiligt waren. Wo findet in der breiteren Öffentlichkeit eine historische Aufarbeitung der Beteiligung deutscher Offiziere an dem Völkermord im Ersten Weltkrieg statt, der Kumpanei der Deutschen mit der türkischen Regierung in den Jahren des »Dritten Reichs«? Auch hierzulande setzt man gern die Multikulti-Brille auf, schwärmt von dem »pulsierenden« Istanbul und glaubt immer noch, der EU-Beitritt werde schon richten, was uns zuweilen an Nachrichten über mangelnde Rechtsstaatlichkeit der Türkei erreicht. Im Dienste dieses höheren politischen »Geschäftsinteresses« sind offensichtlich auch hiesige Institutionen zu Konzessionen bereit. Der türkische Staat ist nicht zimperlich bei seinen wiederholten Vorstößen, Informationen über ihm missliebige historisch-politische Geschehnisse auch außerhalb der Türkei zu unterdrücken. Das Kapitel »Haymatloz« in diesem Buch erzählt davon, wies er Zensur übte und damit beim Goethe-Institut, immerhin eine offizielle kulturpolitische Institution des Auswärtigen Amtes, offensichtlich auf Kooperationsbereitschaft stieß.
    Vielleicht musste ich erst vierzig Jahre fort sein aus der Türkei, um Kraft aus dem Verlorenen zu schöpfen. Vielleicht musste ich, wie die Schriftstellerin Monika
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